Seit fünf Jahren betreut die Psychologin Noelle Jouan syrische Männer, Frauen und Kinder im Flüchtlingscamp in der libanesischen Bekaa-Hochebene und klärt in dortigen Gemeinden über psychische Gesundheit auf. Auch in Einzelgesprächen versucht sie, traumatisierten Menschen helfen.
„Jeden Tag gehe ich nach Hause und denke über meine Erlebnisse nach, über die Menschen, die ich getroffen habe, über die Geschichten, die ich gehört habe, und die Freude und das Leid, das ich mit den Patient(inn)en teile. Manche Geschichten sind zu grausam, um sich daran zu erinnern. Aber gleichzeitig bringt mich die Widerstandskraft dieser Menschen dazu, weiterzumachen. Ich möchte zwei Geschichten erzählen, die mich sehr berührt haben:
Die erste ist die einer 38-jährigen Syrerin, die während des Krieges in Syrien zweimal grundlos verhaftet wurde, es aber geschafft hat, zu entkommen. Sie wurde gefoltert und musste Schreckliches durchmachen, deshalb flüchtete sie in den Libanon. Sie wollte auch die schmerzhaften Erinnerungen hinter sich lassen. Jetzt ist es ihr gelungen, einen Job zu finden und ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Sie hat immer für ihre Rechte gekämpft, sich nicht in eine Opferrolle drängen lassen und war fest entschlossen, weiterzumachen. Ich konnte sie dabei psychologisch unterstützen.
Und noch eine Geschichte hat mich sehr bewegt. Mahmoud war Ende 50 als er in meine Sprechstunde kam. Er hatte mit seiner Familie aus Syrien fliehen und sein Zuhause und seinen Job zurücklassen müssen. Als er im Libanon ankam, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide. Er litt unter einer schweren Depression. Da der Zusammenhalt in seiner Familie sehr stark war, standen ihm alle bei, aber sie fühlten sich auch etwas hilflos. Dann forderte die Flucht einen weiteren Tribut und die schlechte psychische Verfassung von Mahmoud hatte auch Auswirkungen auf seinen Körper: bei ihm wurde Lungenkrebs diagnostiziert. Obwohl er schon vom Krebs gezeichnet war, suchte er dann ohne fremde Hilfe mein Büro auf. Er erklärte mir, dass er Hilfe brauche; sein Auftreten hat mich vom ersten Moment an sehr berührt. Mahmoud hatte schreckliches Heimweh und er erzählte mir von seinem geliebten Syrien, der Notlage seines Volkes und seinem Leben dort. Was er nicht wusste, war, dass er durch die Schilderungen auch seinen eigenen Schmerz etwas abschwächen konnte. Wir vereinbarten einen Termin für unser nächstes Treffen, aber eine Woche später erfuhr ich von seinem Sohn, dass er den Kampf gegen den Krebs verloren hatte. Mahmouds Sohn erzählte mir, dass er sehr glücklich darüber war, dass sein Vater nach der Sitzung mit mir wieder gelächelt und neue Hoffnung geschöpft hatte. Ich aber hatte seinem Vater nur zugehört und versucht, sein Leiden etwas zu lindern. Ich wollte ihm dabei helfen, mit den neuen Lebensumständen zurechtzukommen. Noch immer halte ich den Kontakt zu seiner Familie und spreche in ihrer Gemeinde über psychische Gesundheit. Das ist unsere Art Mahmouds Andenken lebendig zu halten.“
Die Menschen in den libanesischen Flüchtlingscamps sind auf eine psychologische und medizinische Versorgung angewiesen. Seit 2012 hat Ärzte der Welt tausenden Patientinnen und Patienten helfen können. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit mit Ihrer Spende.
Hintergrund:
1,5 Millionen Syrer haben seit Beginn des Krieges im Libanon Schutz gesucht. Die hohe Zahl der Flüchtlinge ist eine enorme Belastung für das libanesische Gesundheitssystem. Die öffentliche Basisgesundheitsversorgung ist nur eingeschränkt funktionsfähig, daneben gibt es eine äußerst teure private Versorgung. Viele Flüchtlinge haben gar keinen oder nur sehr eingeschränkten Zugang zu medizinischen Leistungen.
Ein weiterer Faktor: Ungefähr 70 Prozent der syrischen Flüchtlinge im Libanon haben keinen gültigen Wohnsitz. Ohne diesen laufen sie Gefahr, an Kontrollpunkten verhaftet zu werden. Ein Gesundheitszentrum aufzusuchen ist für sie also mitunter ein großes Risiko.
Seit 2012 unterstützt Ärzte der Welt im Libanon fünf Basisgesundheitszentren und vier Zentren für mentale Gesundheit und psychosoziale Unterstützung für die Menschen in den Flüchtlingscamps.
Allein im Januar 2018 haben wir 9.600 medizinische Konsultationen durchgeführt, unter den Patient(inn)en waren 2.942 Kinder unter fünf Jahren. Auch psychologische und psychosoziale Hilfe ist für die Männer, Frauen und Kinder nach den oftmals traumatisierenden Erfahrungen der Flucht und in den Camps wichtig. Die Psychologen und Psychologinnen des Teams konnten im Januar 2018 in 748 Sitzungen psychologische Hilfe leisten.