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Humam, wenn Du mit Deiner Familie, mit Freunden und Bekannten über die jüngsten Entwicklungen in Syrien sprichst, was fühlen sie im Moment?
Es gibt keine Worte, die all die Emotionen beschreiben könnten. Es ist etwas, von dem wir nie gedacht hätten, dass es passieren würde oder dass wir es erleben würden.
Hier ein persönliches Beispiel: Als Assad 1970 Präsident wurde, war mein Vater 13 Jahre alt. In seinem ganzen Leben als Erwachsener kannte mein Vater nur zwei Präsidenten, Assad, den Vater und Assad, den Sohn. Und natürlich haben meine Eltern das erste große Massaker in Hama 1982 und die letzten 14 schrecklichen Jahre miterlebt. Wir haben nie geglaubt, dass sich etwas ändern würde. Wir haben nur gehofft, dass es eines Tages eine Art von Gerechtigkeit geben würde.
Als die Rebellen im November und Dezember 2024 das Regime stürzten, haben die meisten Menschen in Syrien kaum geschlafen. Ich selbst hatte den Fernseher, meinen Laptop, mein Telefon und das Telefon meiner Frau eingeschaltet, um alle Nachrichten zu erhalten.
Abgesehen davon, dass das Assad-Regime weg ist, haben wir uns die Art und Weise, wie es gestürzt wurde, nie erträumt. Wir hatten die Befürchtung, dass das Regime ohne irgendeine Art von Militäraktion, wie zum Beispiel schwere Bombardierungen von bewohnten Gebieten oder etwas Ähnliches, nicht abziehen würde. Das ist aber nicht geschehen. Wir hatten auch Angst vor Racheakten in der Bevölkerung, insbesondere gegen Menschen, die denselben religiösen Hintergrund haben wie Assad. Auch das ist nicht geschehen. Es war so erstaunlich, dass Damaskus ohne Zusammenstöße oder Konflikte gefallen ist.
Leider gab es nicht nur glückliche Momente.
Es war ein besonderer Moment, die Eröffnung der Gefängnisse zu erleben. Es waren gemischte Gefühle. Wir hofften einfach, dass Angehörigen, die wir dort vermuteten, freigelassen oder zumindest gefunden würden. Es gibt keine Worte, um die Gefühle zu beschreiben, die die Menschen durchleben, wenn sie in diesen Gefängnissen nach ihren Angehörigen suchen.
Jetzt hat die Rebellengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) die Führung übernommen. Hast du Erfahrungen mit der HTS?
Aus meiner Erfahrung als Weißhelm in Idlib kann ich sagen, dass die Gruppe gut organisiert zu sein schien. HTS-Mitglieder haben sich im Allgemeinen gut benommen. Fehlverhalten wurden intern auch hart bestraft.
So schlimm wie Assad und seine Armee, kann die HTS vermutlich gar nicht sein. So schätzen wir die Situation im Moment ein. Wir wissen, dass die Dinge nicht perfekt sind, natürlich nicht. Aber was gerade passiert ist überwiegend positiv. Und wir alle wissen, dass sich 50 Jahre Herrschaft der Assads nicht in ein paar Monaten oder einem Jahr ändern lassen. Wir müssen realistisch sein und Menschen eine Chance geben.
Wie würdest Du den Alltag der einfachen Menschen in Syrien heute beschreiben?
Das ist keine Übertreibung, das ist die Realität: Jahrelang haben einige junge Männer ihre Häuser nicht verlassen. Denn wenn man sein Haus in den vom Regime kontrollierten Gebieten verlassen hätte, wäre man verhaftet und zum Militär gebracht worden. Diejenigen, die nicht für Assad kämpfen wollten und kein Geld hatten, um das Land zu verlassen, blieben zu Hause. Jetzt können sie sich frei bewegen. Sie haben keine Angst mehr.
Ich spreche über die allgemeine Situation: Es ist wirklich inspirierend zu sehen, wie sich die Dinge verändert haben. Jetzt gibt es politische Debatten über die Regierungsform und darüber, wie es nun weitergehen soll. Das ist wirklich erfrischend. Zu Beginn der Revolution im Jahr 2011 wäre man verhaftet worden, wenn man sich laut geäußert hätte. Solche Themen offen zu diskutieren, ist etwas Neues, und manche Menschen erleben es zum ersten Mal in ihrem Leben.
In den vergangenen Jahren konnte man willkürlich verhaftet werden. Eine Person konnte einfach verschwinden und es war schwierig herauszufinden, ob er oder sie noch am Leben war. Die junge Generation hatte keine Ahnung, was die Revolution ausgelöst hatte. Und es war gefährlich, sie darüber zu unterrichten. Wenn eine Information gegen die Regierung gerichtet war und Ihr Kind sich in der Öffentlichkeit oder in der Schule versehentlich dazu äußerte, hätte der Geheimdienst Sie geholt.
Was würdest Du Dir angesichts der aktuellen Situation wünschen?
Zuallererst wünsche ich mir, dass Zusammenhalt für das Land und dass wir eine Einheit werden. Es gibt immer noch Regionen in Syrien, in denen Krieg herrscht, zum Beispiel in Nordostsyrien.
Dann ist da noch die große Frage der Verantwortlichkeit. Wenn nicht irgendwie Gerechtigkeit hergestellt wird, vor allem für bekannte Verbrecher, wird das definitiv zu Racheaktionen führen, und wir riskieren den sozialen Frieden. Daher muss so schnell wie möglich ein System geschaffen werden, das Täter zur Rechenschaft zieht und Gerechtigkeit schafft. Die Menschen sind wütend und haben mit all dem Unrecht zu kämpfen, das sie erlebt haben.
Wir brauchen auch internationale Hilfe für den Wiederaufbau. Dies ist ein wichtiges Thema. Hunderttausende von Menschen, die jetzt in Vertriebenencamps leben, wollen unbedingt wieder in ihre Heimatstädte. Viele sind zurückgegangen, aber oft konnten sie durch die Zerstörungen nicht einmal den Ort wiederfinden, an dem sich ihr Zuhause befunden hat. Sie sind wieder in ihre Flüchtlingscamps zurückgekehrt und suchen nun Wege, um ihr Zuhause wieder aufzubauen.
Was halten die Menschen von der neuen Regierung und dem internationalen Aufruf zu Wahlen in naher Zukunft?
Wir alle freuen uns auf die Wahlen. Aber es ist unmöglich, jetzt eine Wahl abzuhalten, ohne Statistiken, ohne Daten, ohne Volkszählung, mit Millionen von Syrer*innen, die nicht registriert sind und die nicht aufgespürt werden können, mit Tausenden von Syrer*innen in Geflüchtetencamps ohne Ausweise. Aber leider ignorieren einige Medien all dies. Wir brauchen Zeit, bis die ersten Wahlen abgehalten werden können. Alles andere ist nicht realistisch.
Was sind jetzt Deine persönlichen Pläne?
Ich persönlich, meine Familie und ich, wir freuen uns darauf, uns in Syrien zu treffen. Wir haben uns seit Ende 2011 nicht mehr gesehen, also können wir es kaum erwarten.