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Bewohnerinnen eines Ankerzentrums in Bayern hören zu und bringen sich aktiv in den von Ärzten der Welt organisierten Workshop ein. Foto: Ärzte der Welt

„Ich zähle die Tage, bis wir wieder mit euch reden können“

 

In Bayern werden Frauen, die aus Ländern wie Afghanistan geflohen sind, mit ihren Familien in sogenannten Ankerzentren untergebracht. Um ihre Gesundheitskompetenz zu stärken und sie zu Themen wie psychische Gesundheit und geschlechtsspezifische Gewalt zu informieren, bietet Ärzte der Welt dort Workshops an. Ein Besuch.
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Die Teilnehmerinnen nehmen die Hände in die Höhe, atmen tief durch, strecken sich zur Seite und dehnen Hals und Nacken. Sie folgen dem Beispiel der Ärzte der Welt-Referentin Michelle Kerndl-Özcan, die die Übungen vormacht. Momente der Entspannung wie diese zu Beginn des von ihr durchgeführten Workshops im sogenannten Ankerzentrum im oberbayrischen Waldkraiburg sind für die afghanischen Frauen selten. Denn die Lebensbedingungen hier sind mehr als belastend.

Die Workshops sind zudem die einzige Möglichkeit, in einem geschützten Rahmen über so sensible Themen wie Sexualität, Gewalterfahrungen und ihre gesundheitlichen Themen und Sorgen zu sprechen. Heute geht es um Gewalt gegen Frauen. Michelle Kerndl-Özcan betont, dass Gewalt gegen Frauen ein weltweites und ernstes Problem sei, das ein Drittel aller Frauen betrifft. Gerade deshalb sei es so wichtig, darüber zu informieren und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. „Auch, wenn Sie selbst nicht betroffen sind, sollten Sie das wissen, um ihren Freundinnen, Verwandten und anderen Frauen zu helfen.“ Gewalt gegen Frauen verstoße gegen die Menschenrechte - international und auch in Deutschland gebe es Gesetze, die dies unter Strafe stellen. Dolmetscherin Lida Zarif übersetzt auf Dari. Den ganzen Vormittag wird sie hochkonzentriert die Mittlerin sein, die eine Kommunikation möglich macht. Dass sie selbst aus Afghanistan kommt, ist ein großer Vorteil.

An den nickenden Köpfen im Raum, wenn es um unterschiedliche Formen von Gewalt geht,  ist zu erkennen, dass die genannten Beispiele bei den Teilnehmerinnen des Workshops auf Resonanz stoßen. „Die allermeiste Gewalt geht von den Männern aus, nicht nur auf dem Land, auch in der Stadt und von gebildeten Männern“, sagt eine von ihnen. „In Afghanistan bekommen die Frauen oft selbst von der eigenen Familie keine Unterstützung,“ wirft eine andere Teilnehmerin ein. „Da heißt es: Das ist das jetzt deine Familie, selbst wenn dein Mann dich schlägt, gehe dorthin zurück.“

„Es ist wichtig, dass wir Frauen uns unterstützen“, sagt Workshop-Leiterin Kerndl-Özcan. „Betroffene sind nicht allein und haben das Recht auf Hilfe.“

Die Frauen sind sich einig, dass Handlungsbedarf vor allem auch auf Seiten der Männer besteht, sie sich über das Thema informieren und lernen müssen, gewaltfrei zu leben. Ärzte der Welt plant bereits einen eigenen Workshop für Männer.

Die Ärzte der Welt-Mitarbeiterinnen teilen Infoblätter des 24-Stunden-Notrufs aus, auch für die Frauen, die heute nicht dabei sein können. Heute ist auch eine Fachberaterin der Beratungsstelle für gewaltbetroffene Frauen, Kinder und Jugendliche aus dem Landkreis dabei, die ihre Arbeit vorstellt.

Persönliche Hilfe für psychische oder medizinische Probleme

Im Anschluss an den Workshop können die Frauen noch mit dem Ärzte der Welt-Team und der Beraterin sprechen und ihre Anliegen schildern. Viele haben gesundheitliche Beschwerden und leiden seelisch unter der Situation, in der sie im Ankerzentrum leben müssen.

„Jede Woche zähle ich die Tage, bis endlich Freitag ist und ich mit Euch reden kann“, sagt eine der Frauen. „Ich kann es nicht verhindern, immer an meine Familie in Afghanistan zu denken. Manchmal wache ich nachts auf und meine Hände sind taub. Ich fühle meinen Körper nicht und empfinde gar nichts mehr. Ich bin dann wie gelähmt.“

Geflüchtete werden ungleich behandelt

Eine zusätzliche Belastung für die geflüchteten Menschen im Ankerzentrum ist das Wissen, deutlich schlechter gestellt zu sein als Geflüchtete aus der Ukraine.

Viele der afghanischen Geflüchteten wurden vom Ankerzentrum Fürstenfeldbruck nach Waldkraiburg verlegt, um Platz zu schaffen für Ukrainer*innen. So wurden die afghanischen Geflüchteten jedoch von allen existierenden Versorgungs- und Beratungsangeboten in München und Umland – darunter Schulen für die Kinder –  abgeschnitten.

„Wir würden uns wünschen, dass wir auch so aufgenommen werden wie die Ukrainer*innen. Wir sind genau wie sie Menschen, die auf der Flucht vor Krieg in ihrer Heimat sind. Es ist unfair, dass wir trotz der gleichen Situation so unterschiedlich behandelt werden“, sagt eine Frau aus dem Workshop. „Ich möchte die Möglichkeit eines normalen, menschlichen Lebens haben.“

Zudem berichteten mehrere Workshop-Teilnehmerinnen, dass sie Arzttermine oder Termine mit Anwält*innen nicht wahrnehmen können, da die Zugfahrkarte zu teuer ist. Sie bekommen hauptsächlich Sachleistungen und pro erwachsene Person 100 Euro pro Monat. Sie können davon nicht 20 Euro für eine einzige Fahrkarte ausgeben. Geflüchteten aus der der Ukraine ist es aber möglich, kostenlos Zug zu fahren.

„Die Entscheidung zugunsten der Geflüchteten aus der Ukraine beruht auf den richtigen humanitären Maßstäben. Diese müssen jedoch für alle Menschen gelten, die in Deutschland Zuflucht suchen, egal woher“, sagt auch der Direktor von Ärzte der Welt, Francois De Keersmaeker. Zusammen mit zahlreichen weiteren Organisationen hat Ärzte der Welt öffentlich und gegenüber politischen Entscheidungsträger*innen gefordert, die Ungleichbehandlung verschiedener Gruppen von Geflüchteten zu beenden.

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