Briefings zur Sicherheit, Anreise nach Winnyzja
10.9.2023 - Am Vortag unserer Abreise haben wir unsere letzten Vorbereitungen getroffen. Dazu gehörten eine Reihe von Sicherheitsschulungen. Armando Palacios ist bei Ärzte der Welt Deutschland für die Sicherheit zuständig und sprach per Zoom mit der Delegation. Obwohl unser Reiseziel Dnipro über 100 Kilometer von der Front entfernt ist, warnte er davor, sich in falscher Sicherheit zu wiegen: „Es kann jederzeit eine Rakete einschlagen.“ Die Situation in der Ukraine sei auch für erfahrene humanitäre Helfer*innen oft schwer einzuschätzen. Obwohl es unwahrscheinlich sei, dass wir von einem Luftangriff getroffen werden, erklärt Armando „liegt es in unserer Verantwortung als Organisation, euch über die Risiken zu informieren.“
In einem zweiten Sicherheitsbriefing beruhigt der ukrainische Logistik-Experte Yevgen Shurygin uns jedoch: „Macht euch keine Sorgen, ich werde jede eurer Bewegungen die ganze Zeit genau mitverfolgen.“ Yevgens Worte würden unter normalen Umständen unheimlich klingen. Nun haben sie einen ermutigenden Effekt. Bestens informiert und froh, dass es endlich losgeht, sitzen wir am nächsten Tag im Flugzeug zur ersten Station unserer Reise, der rumänischen Stadt Suceava. Mit dabei sind der Direktor von Ärzte der Welt Deutschland François De Keersmaeker, die Referentin für internationale Programme Anna Radchenko und Chrysanthi Tatsi, die ihre neue Stelle als Programmkoordinatorin in der Ukraine antreten wird.
Warnung vor Luftalarm per Handy
In Suceava begrüßt uns unserer Fahrerin Irina Venglyovska, die uns am nächsten Morgen in die Stadt Winnyzja bringen wird. Wir bekommen Handys, auf die bereits eine App geladen ist, mit der wir die Luftalarme empfangen können. Die Sirene gefolgt von einer ernsten Stimme, die uns dazu auffordert, den nächsten Luftschutzkeller aufzusuchen, wird uns in den kommenden Tagen Tag und Nacht begleiten. Die Benachrichtigungen sind gespickt mit Star Wars-Referenzen wie „May the force be with you“:
Ankunft in Winnyzja
Die Fahrt geht vorbei an Sonnenblumenfeldern und langen Reihen von Lastwagen, die in die Ukraine einreisen wollen. Dann sind wir endlich in unserem Zielland angekommen! Vom Krieg ist zunächst kaum etwas zu spüren – die Straßen von Winnyzja sind voll, Menschen erledigen Einkäufe oder trinken ein Bier vor dem Abendessen. Im Hotel werden wir dann jedoch beim Check-in sofort auf den hoteleigenen Luftschutzbunker hingewiesen. Wir werden ihn in dieser Nacht nicht brauchen.
Dnipro
12.9.2023 - Nach weiteren acht Stunden Fahrt erreichen wir unseren Zielort Dnipro. Am nächsten Tag treffen wir endlich unsere ukrainischen Kolleg*innen. Das Team hier besteht aus rund 35 Personen – Ärzt*innen, Psycholog*innen, Hebammen, Logistiker*innen, Verwaltungsangestellte, Fahrer*innen. Sie alle haben sich im großen Besprechungsraum versammelt. „Obwohl es zwei Tage gedauert hat, hier her zu reisen, fühlen wir uns euch sehr nah“, richtet sich Ärzte der Welt-Direktor François De Keersmaeker an das Team. „Ihr versucht, die Welt jeden Tag etwas besser zu machen, obwohl ihr mit Ungerechtigkeit und Gewalt konfrontiert seid. Das ist der Geist von Ärzte der Welt.“
Mit dem mobilen Team im Einsatz
Es bleibt noch Zeit für einen kurzen Austausch im Büro, dann geht es wieder in den Minibus, um den Einsatz unseres mobilen Teams in der Kleinstadt Obuchiwka zu begleiten.
Das Team besteht aus einer Hebamme und einer Psychologin, die die in dem Gesundheitszentrum tätige Allgemeinmedizinerin unterstützen.
Die Hebamme bietet auch Konsultationen zu Themen rund um Schwangerschaft und Geburt an. Wenn sie nicht weiterhelfen kann, verweist sie die Patientin an eine Facharztpraxis in der Umgebung. „Manche Frauen, die zu uns kommen, haben seit zehn Jahren keine*n Gynäkolog*in gesehen. Daher ist unser Angebot von großem Nutzen für sie“, erklärt die Ärzte der Welt-Psychologin Nathalia Bukrieieva. Das beziehe sich auch auf die Angebote zur mentalen Gesundheit. „Auch Patient*innen, die zuerst skeptisch waren, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, kommen jetzt zu uns.“
Die im Zentrum tätige Ärztin Valeria Romanova zeichnet ein drastisches Bild von den Auswirkungen, die der Krieg auf das örtliche Gesundheitssystem hatte. „Als wir im Winter Stromausfälle hatten, sind sogar Menschen gestorben, weil sie auf Elektrizität angewiesen waren. Zum Beispiel, weil sie wegen einer Covid-Erkrankung ein Beatmungsgerät brauchten.“
Entsprechend dankbar sind Patient*innen wie die 67-jährige Valentyna Samoilenko, für die Arbeit des Teams.
„Ich habe eine Behinderung und habe eine Krebserkrankung gehabt. Meine Tochter leidet an Epilepsie. Wir bekommen hier medizinische Hilfe und Medikamente. Ärzte der Welt ist wirklich eine große Unterstützung für uns. Ich möchte mich herzlich dafür bedanken!”
Danach geht es zurück nach Dnipro zu einem Gesundheitszentrum, wo vor allem Vertriebene aus der ostukrainischen Stadt Torezk, aber auch Menschen aus Bachmut und Mariupol, versorgt werden. Ärzte der Welt hat der Einrichtung unter anderem das dringend benötigte Ultraschallgerät gespendet. „Das Gerät hilft uns wirklich sehr bei unserer Arbeit, es ermöglicht uns viele wichtige Untersuchungen durchzuführen“, sagt die Ärztin Iryna Mischenko.
Nächster Programmpunkt ist ein Treffen mit unserer ukrainischen Partnerorganisation 100% Life. Die Organisation arbeitet seit Jahren unter anderem in der Prävention von Tuberkulose und HIV und setzt sich politisch für die Rechte von Patient*innen ein. Wir unterstützen deren mobiles Team, das vor allem besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen, wie ältere Menschen, Frauen, Kinder und chronisch Kranke versorgt – auch nahe der Front in der Stadt Nikopol.
Besuch im Playback-Theater
Der bereits lange Tag klingt aus mit Kulturprogramm: Ein Besuch einer von Ärzte der Welt organisierten Aufführung des sogenannten Playback-Theaters der Gruppe Farba Fabra. Bei dieser besonderen Performance stehen die Zuschauenden im Mittelpunkt. Zu Beginn werden sie ermutigt, Geschichten aus ihrem Leben zu teilen. Diese stellen die Schauspieler*innen dann szenisch dar. Das soll den Teilnehmenden helfen, belastende Gefühle und traumatische Erfahrungen zu verarbeiten.
Eine Frau mit kurzen blonden Haaren meldet sich. „Ich möchte die Dankbarkeit ausdrücken, die ich gegenüber den freiwilligen Helfer*innen empfinde, die Menschen aus der Region Donezk herausgeholt haben. Wir sind aus Bachmut. Um uns herum explodierten die Bomben. Sie haben meine Familie und mich da rausgeholt und sind dann zurückgefahren, um noch mehr Menschen zu helfen.“
Nach der Aufführung zeigt sich Olena Bila, die Frau aus Bachmut, zufrieden, dass sie sich ein Herz genommen und sich gemeldet hat. „Als ich das erste Mal beim Playback-Theater war, habe ich mich entschieden, meine Geschichte nicht zu teilen. Aber heute wollte ich über die Tapferkeit dieser jungen Menschen sprechen, die für andere ihr Leben riskieren.“ An diesem Abend wollen so viele Zuschauer*innen mitmachen, dass nicht alle drankommen können. Der ehemalige Psychotherapeut Roman Kandybur, der die Theatergruppe leitet, ist davon nicht überrascht. Die Ukraine habe eine stark ausgeprägte mündliche Erzähltradition. „Wir fragen nicht, was ist dein Problem, sondern, was ist deine Geschichte.“ Damit erreiche man auch Menschen, die eher Berührungsängste hätten, psychologische Dienste in Anspruch zu nehmen. Er findet den Begriff Theater eigentlich nicht ganz passend für seine Arbeit. Für ihn ist es vielmehr „community-based healing”, also eine Art Heilung in der und durch die Gemeinschaft. Auch seine Arbeit versteht er als einen „Dienst an der Gemeinschaft“.
Es ist schon spät, als wir noch kurz zu Abend essen und dann todmüde ins Bett fallen.
Besuch in Dniprowske
13.9.2023 - Der Tag beginnt mit einer kurzen Morgenbesprechung. Dann begleiten wir ein mobiles Team in das Dorf Dniprowske.
Mehrere Frauen warten bereits auf ihre Sprechstunde mit der Hebamme. Einige haben ihre Enkelkinder dabei. Im örtlichen Kindergarten gibt es keinen Schutzraum und so passen sie auf die Enkel auf, falls es einen Luftalarm gibt, während die Eltern arbeiten. Obwohl die Frauen mit gynäkologischen Anliegen gekommen sind, merkt man in den Gesprächen, wie wichtig auch die psychologische Versorgung der Menschen hier ist.
„Ich bin wegen des Kriegs nach Polen gegangen“, erzählt die 54-jährige Olha Stavitska. „Als ich nach einem Jahr wieder zurückgekommen bin, ist mir aufgefallen, dass die Menschen anders auf Dinge reagieren. Sie haben das Leuchten in ihren Augen verloren.“ Die 31-jährige Olena Shevtsova, die ebenfalls zu Beginn des Krieges mit ihren beiden Kindern nach Polen geflüchtet und nun wieder in Dniprowske lebt, hat ähnliche Erfahrungen gemacht. „Die Menschen sind wütender, sie haben keine Freude. Es ist schwer, Freunde zu finden. Die Stimmung ist so gedrückt, dass ich auch kaum das Bedürfnis habe, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten.“
Der Logistik-Manager Michael Gathogo inspiziert noch den Generator, den Ärzte der Welt der Gesundheitseinrichtung zur Verfügung gestellt hat, damit gefährliche Stromausfälle wie die, von denen die Ärztin bei unserem Besuch Obuchiwka berichtet hat, ausbleiben. Er verspricht, noch nötige Ersatzteile zu besorgen, bevor der Winter kommt.
Abschied vom Team in Dnipro
Nach der Rückkehr ins Büro in Dnipro haben wir noch etwas Zeit für wichtige Besprechungen mit unseren ukrainischen Kolleg*innen, bevor sich das gesamte Team zu einem Abschiedsessen in einem georgischen Restaurant zusammenfindet. Die Stimmung ist heiter und auch emotional. Jede*r an der langen Tafel hat eine ganz eigene Geschichte zu erzählen über den Kummer, den der Krieg allen persönlich und den Familien gebracht hat. Ich habe den Eindruck, dass die schwierigen Arbeitsbedingungen das Team in Dnipro zusammengeschweißt haben. Die Kolleg*innen aus der Ukraine und aus Deutschland drücken sich gegenseitig ihre Wertschätzung aus und knipsen Erinnerungsfotos.
Kämpfen gegen Stress und Angst
15.9.2023 - Für mich ist es heute schon der letzte Tag meiner Reise, bevor die Rückfahrt beginnt. Wir sind zurück in Winnyzja und der Tag beginnt um fünf Uhr morgens im Luftschutzkeller. Weil es Drohnenangriffe in der Gegend gibt, empfiehlt unser Sicherheitsbeauftragter Yevgen, den Alarm ernst zu nehmen. Nach zweieinhalb Stunden gibt es Entwarnung und wir können den Keller verlassen.
Wir erreichen das Ärzte der Welt-Büro in Winnyzja gerade noch rechtzeitig, um das mobile Team zu verabschieden, das hier im Einsatz ist. Die Ärztin, die Krankenpflegerin und die Hebamme sind auf dem Weg zu einer Unterkunft für Vertriebene aus Luhansk, Donezk und Cherson.
Workshop für Sozialarbeiterinnen
Normalerweise verstärkt eine Psychologin das Team. Doch heute gibt sie eine Fortbildung für Sozialarbeiter*innen. Wir besuchen sie in einem örtlichen Zentrum, in dem unter anderem zahlreiche Veranstaltungen für freiwillige Helfer*innen stattfinden. Als wir ankommen, sind einige Frauen damit beschäftigt, Schleifen in Tarnfarben an Netze zu knoten. Damit können die Soldaten an der Front zum Beispiel Fahrzeuge verbergen. Zwei Ärzte der Welt-Psychologinnen unterrichten gerade eine Gruppe von Sozialarbeiter*innen im Bereich mentale Gesundheit. In dem viertägigen Workshop lernen diese unter anderem Techniken, wie sie mit dem permanenten Stress, den der Krieg bedeutet, umgehen können. Dazu gehören bestimmte Atem- und Achtsamkeitsübungen, die sie sowohl ihren Klient*innen zeigen als auch selbst praktizieren können.
„Ich finde den Workshop sehr hilfreich“, sagt die Sozialarbeiterin Olha Atamanenko. „Er hilft uns, kein Burnout zu bekommen.“ Die 30-Jährige arbeitet mit Menschen, die aus Donezk und anderen schwer umkämpften Regionen nach Winnytsia geflohen sind. „Sie fühlen sich oft unverstanden von Menschen, die aus eher ruhigeren Gegenden kommen. Und viele fühlen sich schuldig, für das Leben, das sie hier haben. Um diesen Menschen zu helfen, muss ich auch mit meinem eigenen Stress umgehen können.“
Besuch einer Unterkunft für Vertriebene
Dann geht der Workshop weiter und wir verabschieden uns zu unserer nächsten Station: Das Wohnheim einer Fachhochschule, in dem heute jedoch überwiegend vom Krieg vertriebene Menschen untergebracht sind. Hier ist zwei Mal im Monat unser mobiles Team im Einsatz. Heute sind wir jedoch da, um die neuen Räume einzuweihen, die mit Hilfe von Ärzte der Welt eingerichtet werden konnten. Der Leiter der Einrichtung Valerii Diakiv zeigt stolz die beiden frisch renovierten Behandlungszimmer und die Krankenzimmer für Patient*innen, die von anderen getrennt liegen müssen. Auch ein kinderfreundlicher Wartebereich wurde gebaut.
Nach dem russischen Einmarsch stand Valerii Diakiv plötzlich vor ungeahnten Herausforderungen. Hunderte Menschen mussten untergebracht und versorgt werden. „Als wir Stromausfälle hatten, haben wir gelernt, wie man in einer Feldküche kocht“, erzählt er. Insgesamt habe er schon rund 19.000 Vertriebene beherbergt – mehr als in jeder anderen Einrichtung Winnyzjas. Aktuell wohnen 127 Vertriebene in dem Wohnheim. „Darunter sind ältere Menschen, Menschen mit Krebserkrankungen. Es sind hier sogar schon Menschen an Krebs gestorben. Ihre Familien waren dankbar, dass sie sie wenigsten anständig beerdigen konnten.“
Diakiv sagt, er hätte von dem psychologischen Training sehr profitiert. „Ich habe gesehen, wie Menschen hier auf Explosionen oder auch nur laute Geräusche reagieren. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben eine Panikattacke gesehen. Jemand hatte mit der Tür geknallt und eine Frau, die aus den umkämpften Gebieten evakuiert worden war, bekam plötzlich eine Panikattacke. Ihr Mann war auch völlig verstört und ich musste sie beruhigen. Es war schwer, als wir noch keine Psychologin hatten. Viele Menschen hier, auch Kinder, reagieren sehr stark auf laute Geräusche. Viele haben Ängste, Depressionen.“
Der Leiter Diakiv spricht schnell und viel, als er uns durch die Einrichtung führt. Er ist voller Tatendrang und will noch eine Menge verbessern in der Unterkunft. In der Bibliothek bleibt er vor einer Fotogalerie stehen mit Bildern von ehemaligen Studenten, die als Soldaten gefallen sind. Er zeigt auf das Foto eines jungen Mannes. „Das ist mein Neffe. Er ist vor drei Monaten gestorben. Er war 21 Jahre alt.“
Rückflug
16.9.2023 - Im Flugzeug zurück nach Deutschland sind wir voller Eindrücke. Was überwiegt, ist die Bewunderung für und der Stolz auf unsere Kolleg*innen in der Ukraine. Sie setzen dem Schrecken und der Sinnlosigkeit dieses Krieges jeden Tag etwas Gutes entgegen. Wir hoffen, dass wir uns bald wiedersehen und werden sie weiterhin nach Kräften unterstützen.
Um unsere Projekte auch zukünftig auf sichere Beine zu stellen, sind wir auf Spenden angewiesen. Vielen Dank für Ihre Hilfe!
Die Autorin
Stephanie Kirchner ist seit mehreren Jahren unter anderem für die Pressearbeit im Team von Ärzte der Welt Deutschland zuständig. Die gelernte Journalistin steht seit Beginn der Offensive in regelmäßigem Kontakt mit unseren Teams in der Ukraine. Für ihren Blog hat sie unsere Kolleg*innen bei der Arbeit begleitet und berichtet über ihre Eindrücke.