Fast täglich erreichen die Mitarbeitenden der humanitären Organisation Hilferufe geflüchteter Frauen, die in ihren Unterkünften nicht sicher sind. Zunehmend werden Frauen in Turnhallen oder Leichtbauhallen verlegt. Dort leben bis zu Hundert Personen auf engem Raum. Männer und Frauen sind gemeinsam untergebracht und es gibt keinen funktionierenden Sichtschutz. Frauen können sich nicht umziehen, nicht schlafen, ihre Babys nicht stillen, ohne Blicken oder gar verbalen und körperlichen Übergriffen von Männern ausgesetzt zu sein.
„Die meisten dieser Frauen haben in ihren Herkunftsländern und auf der Flucht Vergewaltigungen und andere Formen der sexuellen Gewalt erlebt", sagt die Ärzte der Welt-Projektkoordinatorin Michelle Kerndl-Özcan. „Wie kann es sein, dass traumatisierte Frauen in deutschen Unterkünften nicht vor Männergewalt geschützt sind?"
Laut verbindlichen Abkommen, wie der Istanbul-Konvention und der EU-Aufnahmerichtlinie, ist die Bundesrepublik verpflichtet, besonders schutzbedürftige Personen zu identifizieren und angemessen zu versorgen. Dazu gehören Menschen, die sexualisierte und schwere körperliche Gewalt erlebt haben. Oft scheitert es schon an ausreichend ausgebildetem Personal, um zu erkennen, wer betroffen ist. Auch notwendige medizinische Versorgung erhalten geflüchtete Frauen häufig nicht. Viele wissen nicht, wie sie einen Termin bei einer*einem Ärzt*in bekommen können, um zum Teil lebenswichtige Medikamente zu erhalten.
Das Beispiel einer Klientin von Ärzte der Welt macht die Dramatik der Situation deutlich: Die Frau wurde mit 14 Jahren in ihrem afrikanischen Herkunftsland an einen 65-jährigen Mann verkauft. Später wurde sie in Europa Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Sie musste unzählige Vergewaltigungen und massive körperliche Gewalt erleiden. Die gesundheitlichen Folgen sind entsprechend massiv. Die Frau ist schwer traumatisiert und chronisch an Hepatitis erkrankt. Trotzdem wurde sie ohne Vorwarnung von einem Tag auf den anderen in eine Turnhalle verlegt. Dort besteht die Gefahr erneuter Übergriffe und einer Retraumatisierung. Erschwerend für die körperliche und psychische Gesundheit kommt hinzu, dass die einfachsten menschlichen Grundbedürfnisse hier nicht gewährleistet sind. Die Halle ist so kalt, dass Frauen in dicken Winterjacken schlafen müssen. Wasserkocher, um sich einen Tee zu machen oder eine Wärmflasche zu befüllen, sind verboten. Es gibt nur eine warme Mahlzeit am Tag und keine Möglichkeit, sich darüber hinaus etwas zu essen zuzubereiten. Nur mit aufwendiger Unterstützung des Ärzte der Welt-Teams konnte die Klientin in eine andere Unterkunft verlegt und psychotherapeutische Betreuung organisiert werden.
Es darf nicht sein, dass der Schutz und die Versorgung von geflüchteten Frauen vom Zufall abhängt! Ärzte der Welt fordert deshalb von politischen Entscheidungsträger*innen, dafür zu sorgen, dass Gewaltschutzkonzepte und Mindeststandards zum Schutz von Geflüchteten in Unterkünften eingehalten werden. Sozialdienste und Sprachmittlung müssen deutlich ausgebaut werden.
Hintergrund: Die humanitäre Organisation Ärzte der Welt bietet regelmäßig Workshops und Einzelberatungen für Bewohner*innen in sogenannten Ankereinrichtungen an. Ziel ist, die individuelle Gesundheitskompetenz zu stärken. Besondere Schwerpunkte sind psychische und sexuelle Gesundheit sowie Gewaltschutz und Unterstützung von Betroffenen von genderbasierter Gewalt. Diese Workshops werden in verschiedenen Sprachen angeboten, um möglichst viele Bewohner*innen zu erreichen.