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Mädchen in Palästina. Foto: Bruno Fert

Unterwegs in den Palästinensischen Gebieten

Durch medizinische und psychologische Unterstützung hilft Ärzte der Welt Palästinensern im Westjordanland und in Gaza, besser mit den extremen Lebensumständen zurechtzukommen. Ärzte der Welt-Pressereferentin Stephanie Kirchner besucht in diesen Tagen unsere Projekte in den Palästinensischen Gebieten und berichtet hier von ihren Eindrücken.

 

Das Programm im Westjordanland und in Gaza wird vom Auswärtigen Amt finanziert.

 

06. September 2018

Der Tag des Abschieds vom Team in Nablus ist gekommen. Es gibt noch einmal – was sonst? – Falafel und Hummus. Morgen fahren wir zurück nach Jerusalem und von dort aus geht es zurück nach München. Die Erinnerung an diese Reise, die beeindruckenden Geschichten und Kolleg(inn)en aus Gaza und dem Westjordanland wird bleiben.

Abschied vom Team in Nablus
Abschied vom Team in Nablus

05. September 2018

Heute besuchen wir wieder einige Dörfer im Westjordanland. Die erste Station ist Qaryut, das zwischen Ramallah und Nablus liegt. Israel hat wiederholt Teile des Dorfes für Siedlungen konfisziert. Abgesehen von der Sorge, ihr Land und damit ihren Lebensunterhalt zu verlieren, leben die Bewohner in Angst vor der Gewalt der Siedler, die, wie sie sagen, vom israelischen Militär geschützt werden. Ahmad Tafeh Abu Nijim  zeigt uns von einer Anhöhe, wo er 1951 geboren ist. Dort besaß seine Familie einst Mandelbäume, jetzt ist dort eine israelische Siedlung zu erkennen. Ihm sind nur noch einige Olivenbäume geblieben, die sein Vater 1940 gepflanzt hat. Sie sind seine einzige Einkommensquelle. Vor einer Woche, erzählt der ältere Herr, hätten Siedler Schafe auf das Land getrieben. Die Tiere hätten die Olivenernte beschädigt und er fürchte nun, dass ihm auch noch dieses Land genommen wird. „Ich hasse die Israelis nicht, ich mag es nur nicht, wenn jemand unbefugt mein Land betritt.“

       

Ahmad Tafeh Abu Nijim vor seinem Land
Ahmad Tafeh Abu Nijim vor seinem Land
                        

Der Aktivist Bashar Sadeq Moamar hat es sich sich zur Aufgabe gemacht, die Übergriffe und Landnahmen in der Gegend zu dokumentieren. „Wir sind im Überlebensmodus,“ sagt er, „wenn Israel weiter Land konfisziert, bleibt nichts mehr übrig für die Leute in Qaryut. Wir brauchen Menschen, die sich für uns einsetzen. Die Leute müssen wissen, was hier passiert und wie beängstigend es ist.“ Bashar erzählt uns auch, dass seit einigen Jahren eine wichtige Straße von den israelischen Behörden blockiert wird. Nun bräuchten Bewohner des Dorfes, die zum Arbeiten und zum Studieren nach Ramallah müssen, um ein Vielfaches länger. Auch Gesundheitseinrichtungen seien nun deutlich schwerer zur erreichen.

Der Aktivist Bashar Sadeq Moamar
Der Aktivist Bashar Sadeq Moamar

Urif ist der letzte Ort, den wir auf unserer Reise besuchen. Die Geschichten der Menschen, die wir hier treffen, gleichen denen, die wir in der vergangenen Woche in Asira Al Qibliah und Burin gehört haben. Zeyad Shehadeh heißt uns in seinem Haus willkommen. Der Lehrer berichtet von mehreren Angriffen von Siedlern auf sein Haus. Schon drei Mal sei sein Auto angezündet worden. Zwei völlig ausgebrannte PKW stehen noch vor der Tür. Eine Zeit lang habe die ganze Familie in der Mitte des Hauses geschlafen, weit weg von den Fenstern, um seine Frau und seine zwei kleinen Kinder zu schützen. Inzwischen haben die Fenster Gitter und vor dem Haus wird ein Zaun gebaut. Ich denke daran, was ein Ärzte der Welt-Kollege vor einigen Tagen gesagt hat: Nur wenn ein Mindestmaß an äußerer Sicherheit gewährleistet ist, können die psychologischen Folgen der permanenten Übergriffe behandelt werden.

Zeyad Shehadeh und seine kleine Tochter Asinat
Zeyad Shehadeh und seine kleine Tochter Asinat

4. September 2018

Einen Großteil dieses Tages verbringen wir auf der Reise von Gaza zurück nach Nablus. Am Erez-Übergang ist deutlich mehr Betrieb als auf dem Hinweg. Später erfahren wir, dass es an dem Tag zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und israelischen Sicherheitskräften am Grenzübergang gekommen ist. Als Reaktion machen die israelischen Behörden Erez für über eine Woche dicht. Wir haben es also offenbar gerade noch rechtzeitig über die Grenze geschafft. Die Kontrollen nach Israel hinein sind sorgfältiger und dauern länger als bei der Einreise nach Gaza. Unsere Koffer werden geöffnet und durchsucht. Während wir auf unser Gepäck warten, sehe ich, dass auf einer Galerie ein Soldat mit einem Maschinengewehr steht, das auf uns gerichtet ist. Ich muss immer wieder nervös nach oben schauen. Auf einmal winkt der Soldat mir zu. Schnell wende ich den Blick ab.

Das Team in Gaza
Das Team in Gaza

 

3. September 2018

Heute besuchen wir zunächst eine Reihe von Krankenhäusern und Gesundheitszentren, die Ärzte der Welt im Gazastreifen unterstützt. Über die vom Emirat Katar finanzierte nagelneue Küstenstraße fahren wir das Al-Aqsa-Krankenhaus an. Dessen Gänge sind – man hatte uns bereits vorgewarnt – ziemlich voll. Wenn hier jemand krank wird, kampiert bisweilen die ganze Familie im Hospital.

Wir werden vom Chefarzt der Notaufnahme empfangen. Er führt uns zu einem Raum, wo ein mit unseren spanischen Kollegen angereister Arzt gerade Patienten untersucht, die bei den Freitagdemonstrationen durch Schüsse israelischer Sicherheitskräfte verletzt worden sind. 60 von ihnen wird ein Freiwilligen-Team von Ärzte der Welt operieren, um die Chirurgen vor Ort zu entlasten.

 Freiwillige Mitarbeiterinnen von Ärzte der Welt bieten in der Notaufnahme des Al-Aqsa-Krankenhauses psychosoziale Unterstützung an.
Freiwillige Mitarbeiterinnen von Ärzte der Welt bieten in der Notaufnahme des Al-Aqsa-Krankenhauses psychosoziale Unterstützung an.

Ebenfalls auf freiwilliger Basis arbeiten hier vier Psychologinnen. Sie sprechen mit den Kranken, die in die Notaufnahme kommen, und ihren Familien. Wenn jemand Unterstützung braucht, helfen sie weiter. Das ist nicht selbstverständlich in den Palästinensischen Gebieten, wo seelische Leiden im Gesundheitswesen kaum eine Rolle spielen und in der Gesellschaft oft mit einem Stigma belegt sind. Ärzte der Welt arbeitet auf unterschiedlichen Wegen daran, die psychologische Versorgung von Patienten in das Gesundheitssystem von Gaza zu integrieren. Wie wichtig das ist, zeigt unter anderem die hohe Anzahl von Suizidversuchen, von denen die Ärzte der Welt-Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hier berichten. „Wenn wir erfolgreich sind“, sagt Fatma Alzahra, eine der freiwilligen Psychologinnen, „haben wir zu einem echten Kulturwandel beigetragen.“ Sie hat auch mit Menschen gearbeitet, die bei den Protesten an der Grenze von israelischen Sicherheitskräften angeschossen worden sind. „Ich war überrascht, wie schnell einige bereit waren, zurück zu gehen, um weiter zu demonstrieren. Nach einer Weile kann sich das jedoch ändern und die Person kann Posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln.“

Auf dem Weg zu einem unserer nächsten Termine, sind die Straßen plötzlich voller Schulkinder. In Gaza wird nach einem Schichtsystem unterrichtet, weil es nicht genügend Schulgebäude gibt. Während der Kriege wurden viele Schulen beschädigt oder zerstört und es fehlt an Material, um neue zu bauen. Es ist halb zwölf am Vormittag und die erste Schicht endet gerade. Eine schreckliche Vorstellung, dass die massiven Bombardierungen Gazas 2008 genau um diese Uhrzeit anfingen.

Später schauen wir bei einem von Ärzte der Welt organisierten Training vorbei, bei dem Ärzte und Krankenpfleger/-innen für psychologische Themen sensibilisiert werden sollen. Die Ärzte der Welt-Mitarbeiterin Nida Mourtaga spricht an diesem Tag unter anderem darüber, was man beachten sollte, wenn man Familien über den Tod eines Angehörigen informiert.

Mentale Gesundheit wird oft stigmatisiert. Ärzte der Welt führt Trainings durch, die für psychologische Themen sensibiliseren.
Mentale Gesundheit wird oft stigmatisiert. Ärzte der Welt führt Trainings durch, die für psychologische Themen sensibiliseren.

Am Schluss steht noch das kunterbunte Nachbarschaftszentrum des Ärzte der Welt-Partners Culture and Free Thought Association auf dem Programm. Hinter jeder Tür findet hier eine andere Aktivität statt: In einem Raum diskutieren Frauen ihre Eheprobleme, in einem anderen lernen Mädchen, mit Computern umzugehen, in einem dritten malen Kinder, die Kleinsten bekommen vorgelesen. Auch eine Psychologin und eine Sozialarbeiterin von Ärzte der Welt arbeiten hier, um den Kindern und ihren Eltern in Krisensituationen beizustehen.

2. September 2018

Am Sonntag ist das Wochenende hier vorbei und wir machen uns von Jerusalem aus auf den Weg nach Gaza. Unseren Minibus müssen wir vor dem Erez-Grenzübergang stehen lassen. Palästinenser kommen hier nur selten durch. Im Juli konnten nach Angaben der UN zum Beispiel nur rund 12.500 Menschen die Grenze überqueren. Auch Güter dürfen nur sehr begrenzt eingeführt werden, seit Israel als Reaktion auf die Machtübernahme der Hamas 2007 die Abriegelung des Gazastreifens verschärft hat. Im Juli hat Israel den Import von Waren noch weiter beschränkt, weil Palästinenser immer wieder brennende Drachen aus Gaza in Richtung Israel fliegen ließen, die großen Sachschaden anrichteten. Der Mangel an freiem Waren- und Personenverkehr hat dramatische Auswirkungen für die Menschen, zum Beispiel, wenn sie medizinische Behandlungen benötigen, die im Gazastreifen nicht durchgeführt werden können, wie beispielsweise eine Chemotherapie. Auch Medikamente und medizinisches Material sind nicht genügend vorhanden. Mitarbeiter von Ärzte der Welt erhalten in der Regel eine Einreiseerlaubnis. Unsere Kamera müssen wir allerdings bei der Sicherheitskontrolle abgeben, die Linse zählt offenbar zu den sogenannten Dual-Use-Gütern, also Gegenständen, die auch militärisch genutzt werden könnten. Nachdem wir die Gepäckdurchleuchtung und die Passkontrolle hinter uns gebracht haben, gehen wir durch ein enges Drehkreuz und einen etwa 800 Meter langen, käfigartigen Gang. Am Ende angekommen kontrollieren noch einmal Beamte der Palästinensischen Autonomiebehörde unsere Ausweise. Ein paar Meter weiter werden wir in überhitzte Blechhütten geführt, wo unsere Einreisegenehmigungen überprüft werden – diesmal im Auftrag der Hamas-Regierung.

Ärzte der Welt Mitarbeiterinnen gehen durch einen 800 Meter langen, käfigartigen Gang. Die Einreise in den Gazastreifen steht unter strengsten Bedingungen - Pässe werden an beiden Enden des Korridors kontrolliert.
Ärzte der Welt Mitarbeiterinnen gehen durch einen 800 Meter langen, käfigartigen Gang. Die Einreise in den Gazastreifen steht unter strengsten Bedingungen - Pässe werden an beiden Enden des Korridors kontrolliert.

Auf den ersten Blick wirkt Gaza zwar arm, aber lebendig. Zwischen den Autos fahren Eselskarren, Menschen gehen ihren Geschäften nach. Als im Abendlicht das Meer in Sichtweite kommt, könnte man, wenn man es nicht besser wüsste, sogar meinen, sich an einem mediterranen Ferienort zu befinden. Allerdings sollte man hier nicht baden. Das Wasser ist sehr schmutzig, da die Kläranlagen wegen der mangelnden Stromversorgung und anderen Faktoren, die zum Teil mit der israelischen Blockade zusammenhängen, nicht voll arbeiten können. Rund hundert Millionen Liter Abwasser landen deshalb täglich im Mittelmeer. Einige Jugendliche lassen sich jedoch nicht davon abhalten und spielen in der Brandung.

Die Kläranlagen sind stark eingeschränkt, deshalb landen täglich rund hundert Millionen Liter Abwasser im Meer. Einige Jugendliche lassen sich vom Baden jedoch nicht abhalten..
Die Kläranlagen sind stark eingeschränkt, deshalb landen täglich rund hundert Millionen Liter Abwasser im Meer. Einige Jugendliche lassen sich vom Baden jedoch nicht abhalten..

Nach unser Ankunft werden wir zunächst über den Stand der Aktivitäten in Gaza informiert. Unser Kollege Dr. Ahmed Abu Thair berichtet unter anderem von den Schwierigkeiten für die Krankenhäuser, die durch die Stromknappheit entstehen – im Moment wird der Energiebedarf der Kliniken nur für jeweils sechs Stunden am Stück über das reguläre Stromnetz gedeckt, danach muss zwölf Stunden der Generator einspringen, bevor der Strom wieder für sechs Stunden angeht. Das Problem ist, dass so ein Generator sehr viel Benzin braucht und die Kliniken nie sicher sein können, wie lange der Bedarf gedeckt ist. Wie um Dr. Ahmeds Worte zu untermauern, verdunkelt sich der Konferenzraum für einen kurzen Moment – die Stromversorgung im Büro läuft jetzt über Batterie.

Danach erzählen die Kollegen von den Protesten an der Grenze zu Israel, bei denen seit Ende März über 170 Menschen von israelischen Sicherheitskräften erschossen worden sind und mehr als 18.700 verletzt wurden – viele verloren Gliedmaßen. In manchen Gegenden in der Nähe der Grenze gehören junge Männer mit Krücken und Knochenfixateuren inzwischen zum normalen Straßenbild, berichten sie. Auf dem Höhepunkt der Eskalation haben Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Ärzte der Welt unter anderem in einem Zelt vor dem Al-Aqsa-Krankenhaus eine sogenannte Triage durchgeführt, um die Notaufnahme zu entlasten, das heißt, die Verletzten gesichtet und je nach Dringlichkeit des jeweiligen Falles weitergeleitet. Sollte die Situation an der Grenze wieder eskalieren, kann das Zelt jederzeit wieder aufgebaut werden. Morgen werden wir unter anderem die Al-Aqsa-Klinik besuchen.

30. August 2018

Der zweite Tag unserer Reise ist Besuchen bei Menschen gewidmet, die im Rahmen des Ärzte der Welt-Projektes im Westjordanland psychosoziale Unterstützung bekommen.

Als wir im Dorf Burin ankommen, wartet Brussly Dakheel Eid schon vor dem Gebäude, in dem er Pappbecher herstellt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Früher war er Polizist, doch diesen Beruf kann er nicht mehr ausüben seit 2011 radikale Siedler vor seinem Haus auf ihn schossen. Er zeigt auf seine Narben am Oberschenkel, dem Bauch und seinem Fußknöchel, als er die Geschichte erzählt. Er habe sich damals totgestellt, seine Frau und seine Töchter hätten so laut geschrien, dass die Nachbarn zur Hilfe geeilt seien. Im Krankenhaus bekam er Besuch von dem Ärzte der Welt-Projektkoordinatoren Mahmoud Isleem. Seitdem unterstützen unsere Sozialarbeiter/-innen und Psycholog(-inn)en die Eids. „Nachdem sie mit ansehen mussten, wie ich angeschossen wurde, konnten meine Kinder nicht mehr schlafen und haben nachts eingenässt. Sie hatten Angst, das Haus zu verlassen“, sagt Brussly. Mit Hilfe von Ärzte der Welt kann die Familie jetzt etwas besser mit dem Trauma und dem Stress umgehen, dem sie immer noch permanent ausgesetzt ist. Denn Burin ist von israelischen Siedlungen und sogenannten Outposts umgeben. Outposts sind Siedlungen, die nicht nur gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen, sondern auch nach israelischem Recht illegal sind. Angriffe von radikalen Siedlern gehören zum traurigen Alltag der Bewohner. „Sie greifen nicht nur Menschen an, sie zerstören auch unser Land, unsere Olivenbäume. Dabei sind wir Bauern und es ist unsere Lebensgrundlage“, erzählt Brussly. Im Gegensatz zu vielen anderen ehemaligen Bewohnern Burins will er sich aber nicht verjagen lassen. „Jeder möchte von der Arbeit nach Hause kommen und sich sicher fühlen, ich finde, das ist das Recht eines jeden Menschen.“

Brussly Dakheel Eid verdient seinen Lebensunterhalt mit der Herstellung von Pappbechern. Radikale Siedler hatten ihn 2011 angeschossen, seitdem kann er nicht mehr als Polizist arbeiten.
Brussly Dakheel Eid verdient seinen Lebensunterhalt mit der Herstellung von Pappbechern. Radikale Siedler hatten ihn 2011 angeschossen, seitdem kann er nicht mehr als Polizist arbeiten.

Sicherheit wünschen sich auch die Frauen, denen wir auf unserer nächsten Station, dem Dorf Asira Al Qibliah, begegnen. Dort leiten eine Sozialarbeiterin und eine Psychologin von Ärzte der Welt eine sogenannte Peer-Support-Gruppe, die Frauen helfen soll, besser mit den regelmäßigen Übergriffen zu leben. Heute diskutieren sie eine Geschichte über einen Anschlag israelischer Siedler auf eine palästinensische Familie. Sie sprechen über ihre Gefühle beim Lesen, eigene ähnliche Erfahrungen und mögliche Maßnahmen, um solche Vorfälle zu vermeiden oder zumindest den psychischen, physischen und materiellen Schaden für die Familie zu verringern. Am Ende nehmen sich die Frauen an die Hände und bilden einen Kreis, um sich gegenseitig Kraft zu geben.

Wir fahren weiter Richtung Norden, nach Ibziq. Dort treffen wir auf Angehörige einer der gefährdetsten Minderheiten des Westjordanlandes: die Beduinen. Sie leben schon seit Jahrhunderten in der Region, werden aber immer wieder vertrieben, weil sie häufig keine offizielle Baugenehmigung bekommen können. So ging es auch Faisal Daraghmeh, der uns bei selbstgemachtem Ziegenkäse seine Geschichte erzählt. Bereits dreimal wurden die Zelte der Familie mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht. Vor zwei Jahren kam sie schließlich an ihren jetzigen Wohnort. Hier sind das Problem nicht die Angriffe der Siedler, sondern das israelische Militär, das hier regelmäßig Übungen durchführt. Die Familie muss dann alles stehen und liegen lassen und ihre Zelte und das Vieh verlassen, nicht selten über Nacht. Einige der für die Beduinen so wertvollen Tiere seien schon durch Gewehrkugeln getötet worden. Manchmal kämen die Soldaten auch unangekündigt und führten schwer bewaffnet Razzien durch. Zum Abschied zeigt uns Faisal Daraghmeh seine persönliche Methode zur Stressbewältigung: Aus einem alten Metallkanister, den die israelischen Soldaten zurückgelassen haben, hat er sich ein Saiteninstrument gebastelt. Darauf spielt er uns ein Volkslied vor. Es handelt, erklärt die Dolmetscherin, von den einst so stolzen arabischen Völkern, die nun bereits der kleinste Windhauch umwerfen könne.

Bereits dreimal haben israelische Bulldozer die Zelte des Beduinen Faisal Daraghmeh niedergewalzt. Am jetzigen Wohnort leidet die Familie unter dem israelische Militär, das hier regelmäßig Übungen durchführt.
Bereits dreimal haben israelische Bulldozer die Zelte des Beduinen Faisal Daraghmeh niedergewalzt. Am jetzigen Wohnort leidet die Familie unter dem israelische Militär, das hier regelmäßig Übungen durchführt.

Ziemlich verschwitzt und berührt von den vielen Geschichten, die wir an unserem ersten Tag im Feld gehört haben, erreichen wir unsere letzte Station. Hier treffen wir noch einen bemerkenswerten Mann: Sami Subuh, den Gemeinderat des Dorfes Aqabah. Subuh heißt uns in seinem „Büro unter freiem Himmel“ willkommen. Die israelischen Behörden hätten bisher den Bau eines Gebäudes für die Treffen des Gemeinderates verhindert, deshalb halte man die Sitzungen einfach hier ab, unter einem Baum auf dem Dorfplatz. Der gepflasterte, parkähnliche Platz ist keine Selbstverständlichkeit, denn das Dorf liegt in der sogenannte Area C, ist durch das Oslo II-Abkommen von 1995 also vollständig unter israelischer Kontrolle und Verwaltung. Die Bewohner leben in ständiger Angst, dass Häuser oder andere Gebäude, die die zuständigen Behörden als illegal erachten, abgerissen werden. Darüber hinaus liegt das Dorf in einer Militärzone und über die Jahre wurden Dutzende Menschen bei Militärübungen durch Schüsse oder durch übrig gebliebene Blindgänger getötet. Sami Subuh selbst sitzt im Rollstuhl nachdem er 1971 von drei israelischen Gewehrkugeln getroffen wurde. Das hält ihn nicht davon ab, sich unermüdlich für seine Gemeinde einzusetzen und sich den Soldaten entgegenzustellen, wenn sie mal wieder mit Maschinengewehren und Panzern zu Razzien oder Übungen im Dorf anrücken. Er hat schon unzählige Anzeigen erstattet, sich mit einflussreichen Politikern getroffen und im Ausland auf Menschenrechtskonferenzen gesprochen. „Ich weiß wirklich zu schätzen, was Ärzte der Welt in Bezug auf psychosoziale Unterstützung leistet“, dankt er den Kolleginnen. Erschöpft und nachdenklich treten wir die Fahrt zurück nach Jerusalem an, wo wir das Wochenende verbringen werden.

Sami Subuh, Gemeinderat Dorfes Aqabah mit Ärzte der Welt-Mitarbeiterin Stephanie Kirchner
Sami Subuh, Gemeinderat Dorfes Aqabah mit Ärzte der Welt-Mitarbeiterin Stephanie Kirchner

29. August 2018

Die Autofahrt vom Ärzte der Welt-Büro in Ostjerusalem in die Stadt Nablus im Westjordanland dauert nur knapp eine Stunde, aber die Probleme der Region werden schon auf dem kurzen Weg sichtbar. Er führt durch einen Checkpoint und vorbei an mit Stacheldraht umzäunten israelischen Siedlungen in unmittelbarer Nähe zu palästinensischen Dörfern. Beduinenzelte stehen direkt an der mit Olivenbäumen gesäumten Hauptstraße. Irgendwann müssen wir das Auto wechseln, denn für das Westjordanland brauchen wir ein grünes Nummernschild statt des gelben für Jerusalem.

In Nablus angekommen empfängt uns das dortige Ärzte der Welt-Team mit Falafel, Hummus und starkem Kaffee mit viel Zucker und einem Hauch Kardamom. Nach dem Mittagessen bekommen wir ein ausführliches Sicherheitsbriefing. Den übrigen Nachmittag berichten die Kollegen unter anderem von der aktuellen Situation vor Ort. Dazu gehören die zunehmenden Angriffe radikaler Siedler auf ihre palästinensischen Nachbarn. Einen direkten Eindruck werden wir am folgenden Tag bekommen: Dann werden wir das Dorf Burin besuchen und mit Betroffenen sprechen.

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