13.03.2023 - Ankunft und Erster Einsatz
Ankunft am Dienstag in Antakya in der Provinz Hatay. Die Stadt bietet einen surrealen Anblick: Man sieht fast nur kollabierte Häuser, Trümmerfelder. Die wenigen Häuser, die noch stehen, sind nicht sicher und werden wohl allesamt abgerissen werden. Von den ehemals 400.000 Einwohner*innen ist kaum jemand mehr vor Ort. Bei Tag schlängeln sich endlose Konvois von Fahrzeugen, die den Schutt wegtransportieren, zu einer Deponie in den Bergen. Dort soll ein Schuttberg entstehen, wie ihn einige deutsche Städte nach dem zweiten Weltkrieg angelegt haben. Rund 10.000 Laster und Bagger sind vermutlich im Einsatz. Bei Nacht ist die Stadt menschenleer. Nur die Straßen sind beleuchtet, alles andere ist schwarz.
Unser Team ist auf dem Gelände einer christlich-orthodoxen Gemeinde untergebracht. Hier teilen wir uns zu mehreren einen Container. Es gibt eine mobile Feldküche.
Gleich am nächsten Tag haben mein Team und ich mit den Einsätzen begonnen. Täglich geht die Fahrt in die umliegenden Ortschaften, in die viele der Bewohner*innen von Antakya geflüchtet sind. Auch hier wohnen fast alle in Zelten. Jedoch gab es nicht so viele Tote wie in der Stadt, da die Gebäude niedriger sind. Sind diese durch die Erdbeben eingestürzt oder beschädigt worden, kamen entsprechend weniger Menschen zu Schaden.
In den Ortschaften bauen wir unsere improvisierte Praxis in Zelten oder noch stehenden Gebäuden auf: ein Tisch, drei Stühle, Medikamente aus Kisten, Diagnostik nur mit Wort und den Sinnen. Die meisten Patient*innen haben Atemwegserkrankungen, denn nachts ist es bitterkalt und feucht, und in den Zelten schlafen fast alle auf dem Boden. In zwei Teams zu je einem Arzt und einer Pflegekraft behandeln wir täglich fast 200 Patient*innen.
Die Kolleg*innen von Ärzte der Welt Türkei sind großartig und es macht viel Freude, mit ihnen zu arbeiten. Neben meiner ärztlichen Expertise kann ich vor allem Erfahrungen in der Organisation und der Bedarfserhebung einbringen.
17.03.2023 – Einsatz in den Bergen
Wir fahren mit unseren mobilen Teams regelmäßig in die Berge in Richtung syrische Grenze. In diese Dörfer scheinen sich infolge der Erdbeben vor allem Menschen syrischer Herkunft, aber auch Türk*innen aus eher ärmeren Schichten geflüchtet zu haben. Die Einwohner*innenzahl der Dörfer hat sich vervielfacht. Die Schäden durch die Erdbeben sind in den Bergen geringer ausgefallen, dennoch leben einige Dorfbewohner*innen auch in Zelten. Die Dichte der Menschen in den Zelten ist extrem hoch. Auf vier mal fünf Metern wohnen und schlafen bis zu sechs Personen, ein Großteil davon Kinder. Gleichzeitig ist es feucht und kalt. Es muss mit Holz und schlecht ziehenden Öfen geheizt werden, was zu Verrauchung führt.
All das erklärt die Krankheitsbilder, die wir täglich zu sehen bekommen: Atemwegserkrankungen, Augenreizungen, aber auch: die Krätzmilbe. Das ist eine hoch infektiöse Hautparasitenerkrankung, die sich mit starkem Juckreiz, Schlaflosigkeit und Hautveränderungen vor allem an den Händen und in Gelenkbeugen äußert. Es gibt Ortschaften, in denen ein erheblicher Teil der Kinder infiziert ist. Die Behandlung erfolgt mit Cremes oder Lotionen, die Insektizide enthalten. Aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr müssten alle Bewohner*innen einer Wohnstatt behandelt werden, und eigentlich müsste die Behandlung kontrolliert und zeitgleich erfolgen. Aber das ist kaum möglich. Hinzu kommt, dass die einfachen Behausungen wohl noch monatelang bestehen werden, denn die Zahl der Obdachlosen ist bei der Zerstörung ganzer Städte erheblich, und der Wiederaufbau von Häusern wird dauern.
21.03.2023 - Besuch der Zeltstadt von „Eisenbrücke“
Wir führen neben den medizinischen Versorgungsvisiten mit der mobilen Klinik auch Vor-Ort-Beurteilungen von Zeltstätten durch. Diese finden entweder im Anschluss an die mobilen Klinikeinsätze statt, oder aber samstags, wenn wir größere Bereiche abfahren, und hierbei nach Hörensagen oder Sichtung die Zeltstätten aufsuchen und dann beurteilen. Dies ist wichtig, um unser Versorgungsangebot an den aktuellen Bedarf in der Bevölkerung anpassen zu können, aber auch, um bestimmte Bedarfe an andere Organisationen weiterzureichen.
Wir haben in den letzten Tagen die Ortschaft Demirköprü besucht, der Name bedeutet „Eisenbrücke“, von derselbigen ist nach dem Beben nicht mehr viel übrig. Auf dem Platz vor der Dorfschule sind 30 Zelte aufgestellt. Bei den Beurteilungen erfassen wir Informationen über die Ortschaft, und erfahren so, dass die Bevölkerung im Rahmen des Erdbebens von 1.000 auf 1.600 angewachsen ist. Im Ort selbst sind nur etwa 10 Prozent der Gebäude zerstört worden. Die Wasserversorgung erfolgt durch abgefülltes Trinkwasser, die Lebensmittelversorgung wird als stabil und von extern organisiert angegeben.
Allerdings sind keine sanitären Einrichtungen vorhanden, so dass das freie Gelände neben dem Schulgebäude für den Toilettengang genutzt wird. Dies birgt eine Reihe großer Risiken, so zum Beispiel die Ausbreitung ausbruchsartiger Durchfallerkrankungen, aber auch die Übertragung bestimmter Würmer, die bei Barfußlaufen über das Erdreich übertragen werden. Außerdem ist damit möglicherweise auch das Grundwasser und damit die Wasserquelle in Gefahr.
Die professionelle Wasserver- und -entsorgung versteckt sich hinter dem Begriff WASH (Water, Sanitation and Hygiene), der in der humanitären Hilfe ein wichtiges Thema ist. Wir haben hier vor Ort nicht die Möglichkeiten uns der Problematik selbst anzunehmen, werden dies aber den Vertreter*innen der örtlichen Behörden, wie auch der WHO unterbreiten und dringlich um Abhilfe bitten.
25.03.23 - Sondereinsatz in Kirikhan
Gestern sind wir mit unseren mobilen Teams in die etwas weiter von unserer Basis entfernte Stadt Kirikhan gefahren. Sie liegt eigentlich außerhalb unseres erklärten Einsatzbereiches, außerdem gibt es dort eine staatlich betriebene Krankenstation. Jedoch hat uns eine dringliche Meldung erreicht, dass dort eine größere Gruppe Menschen nicht versorgt wird. Nach über einer Stunde Fahrt kommen wir schließlich in einem Zeltlager am Stadtrand an. Es liegt direkt neben der stark befahrenen Landstraße auf einem schlammigen Platz. Unter hygienisch problematischen Bedingungen – überall liegt Müll, es riecht vergoren – müssen hier Angehörige der Roma-Minderheit leben.
Die Bewohner*innen betrachten uns erst skeptisch. Aber als schließlich das Eis schmilzt, kommen viele zu uns. An anderen Einsatzorten erbitten wir vor Ort immer ein paar Tische und Stühle, aber hier sind keine brauchbaren Möbel vorhanden. Also parken wir die Fahrzeuge, so dass wir die Medikamente direkt aus dem Wagen holen können. Und so können wir an diesem Einsatzort etwa 40 Behandlungen durchführen, auch hier überwiegend Frauen und Kinder. Auch hier behandeln wir vor allem Atemwegserkrankungen, Läuse und die Krätzmilbe. Die Frauen sind am Ende dankbar, und schließlich können wir den Einsatz erfolgreich abschließen.
03.04.23 – Erfolgreicher Plan B
Wir haben einen Anruf von einem Bürgermeister eines größeren Stadtteils in der Peripherie von Antakya erhalten. Es gebe dort eine Zeltstadt mit großem medizinischem Bedarf, berichtet er uns. Die Menschen, die dort wohnen, seien völlig unterversorgt. Es handelt sich um einen großen Stadtpark, mit Promenaden und Pavillons, ein ehemaliges Ausflugsziel der Städter aus Antakya. Als wir ankommen, finden wir eine sehr gut organisierte Zeltstadt vor. Es gibt Essensausgaben, eine Polizeistation, sogar einen Kindergarten. Und: eine bestens ausgestattete Gesundheitseinrichtung mit mehreren Ärzt*innen. Sie empfangen uns freundlich und berichten über ihre Arbeit. Sie sehen am Tag um die 130 Patienten. Pro Ärzt*in sind das deutlich weniger, als wir mit unseren mobilen Teams versorgen. Wir fragen, ob es aus ihrer Sicht einen Bedarf gebe, Hilfe benötigt würde. Nein, sie seien bestens ausgestattet, lautet die Antwort. Als wir von dem Anruf seitens des Bürgermeisters berichten, winken sie lächelnd ab: der sei noch nie da gewesen. Es bestätigt sich wieder einmal unser Eindruck, dass alle Einsatzorte zunächst einmal von unseren eigenen Leuten begutachtet werden sollten.
Wir brechen also den Einsatz ab und beschließen einen Plan B, der uns etwa 30 Kilometer weiter in den Ort Samandağ führt. Eine unserer Mitarbeiterinnen kommt von dort. Sie berichtet von einem Camp ohne jegliche Infrastruktur. Wir finden in der Tat ein Konglomerat an Zelten vor, die teils im Schlamm stehen. Dazwischen grob ausgehobene Gräben, damit das Regenwasser nicht in die Zelte eindringt. Es gibt keine Krankenstation, auch niemanden der regelmäßig vorbeikommt. Als wir unsere Medikamente ausladen, kommt schnell eine Menschentraube zusammen. Wir erhalten ein freies Zelt für unsere Behandlungen. Unter der Sonne bekommen wir schnell einen kleinen Eindruck davon, wie es sein muss, dieser Tage hier in einem Zelt zu leben. Es wird drückend heiß und schwül, so dass das Tragen der Atemschutzmasken zu einer Herausforderung wird. Am Ende sehen wir hier 35 Patienten. Wieder leiden viele unter Atemwegs- und Hauterkrankungen. Als wir uns verabschieden, werden wir gefragt, wann wir denn wiederkämen.
Gastfreundschaft und Abschied
Gestern sind mein Team und ich nach Hüseyinli gefahren, eine kleine Gemeinde abseits der Landstraße zwischen Antakya und Samandağ. Da der Ort in den Bergen liegt und die Gebäude überwiegend niedrig gebaut sind, haben die Erdbeben kaum Schäden hinterlassen und die Zahl der Opfer war eher gering. Es sind jedoch viele Menschen aus der Stadt hier her geflohen. In der Ortsmitte sieht man den größten Schaden: Das Minarett der Moschee ist auf ein Nachbargebäude gestürzt, auf der Einfahrt klafft noch ein Krater. Das Moscheegebäude selbst sieht ansonsten stabil aus, so dass wir uns im Gemeinderaum einrichten. Wir versorgen die Dorfbevölkerung, die ansonsten nicht regelmäßig Zugang zu medizinischer Versorgung hat. Am Ende der Arbeit erleben wir etwas, das wir in den vergangenen Wochen immer wieder erleben durften: die unglaubliche Gastfreundschaft der Menschen. Wir bekommen eine große Platte mit Katıklı Ekmek, ein würzig belegtes Fladenbrot, dazu Tomatensalat und Ayran, das Joghurtgetränk. Es wird uns danach dann noch unmöglich gemacht, den Kaffee und Datteln abzulehnen. Und so sitzen wir im Gemeinderaum und freuen uns über die Aufmerksamkeiten.
Mein Monat in Antakya geht heute zu Ende. Wie immer bei solchen Einsätzen, ist die Zeit unglaublich schnell vergangen. Ich hatte das Privileg, mit einem großartigen Team zusammenzuarbeiten. Und ich habe wunderbare Menschen kennengelernt – als Kolleg*innen, Betroffene, Patient*innen oder Menschen, die ich einfach so kennengelernt habe. Ich werde Antakya und meine Zeit hier sehr gut in Erinnerung behalten. Ein Slogan, den man hier immer wieder hört: Antakya, geçmiş olsun! Auf daß es wieder heilt!