Flüchtlinge. Bewegt. Belagert. Zu viele Label, die ich hasse, wurden mir und meiner Community gegeben
Von nun an stelle ich mich täglich als "Vertriebene" vor, auch wenn ich mich wundere, warum ich noch nicht anders betitelt wurde: Märtyrerin, Verwundete oder Gefangene. Ich warte nur darauf, so genannt zu werden. Viele Fragen gehen mir durch den Kopf: Weißt du, wie es sich anfühlt, ein ganzes Leben in eine Tasche packen zu müssen? Die Geduld und Stärke, die es braucht, um monatelang in einem Zelt zu überleben? Und schließlich die große Frage: Wann wird das hier aufhören?
Wenn ich auf die Tage nach dem 7. Oktober 2023 zurückblicke, erinnere ich mich an nichts als Angst und die Bombenangriffe. Meine Familie und ich sind geflohen, um zu überleben. Es ist unmöglich, diese Tage und Nächte zu vergessen. Der Lärm der Bombenangriffe hörte nicht auf. Wir umarmten unsere Kinder und suchten verzweifelt Schutz. Es gab keinen Ort, an dem wir uns verstecken konnten und wir wussten nicht, ob wir am Morgen noch am Leben sein würden.
Ich erinnere mich gut an den Schmerz, den ich empfand, als ich erfuhr, dass das Haus meiner Familie am 9. Oktober, in den ersten Tagen des Krieges, bombardiert worden war. Wir schliefen auf dem Boden im Al-Shifa-Krankenhaus [im Stadtteil Al-Rimal in Gaza-Stadt] in der Nähe meines Hauses. Wie auch hunderte Andere eilten wir dorthin, sobald der Beschuss intensiver wurde oder die umliegenden Häuser bedroht wurden, in der Überzeugung, dass wir in Sicherheit sein würden. Ich weinte über die Zerstörung meines Elternhauses, das immer unser Zufluchtsort war, gefüllt mit Kindheitserinnerungen, Familie, Liebe, Lachen, unseren Habseligkeiten, unserer Kleidung, unseren Kindheitsfotos und allem.
Schweren Herzens liefen wir stundenlang in der Sonne
Das Al-Shifa-Krankenhaus war der größte medizinische Komplex in Gaza. Als ich dort saß, dachte ich daran, dass wir ein paar Tage zuvor mit dem Team von Ärzte der Welt, das Programme für psychische Gesundheit anbietet, dorthin gefahren waren, um psychologische Interventionen durchzuführen. Nur wenige Monate zuvor hatten wir medizinische Teams, darunter Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen und Psycholog*innen, geschult. Ziel war es, ihnen beizubringen, wie sie Maßnahmen für die psychische Gesundheit in die Krankenhausversorgung integrieren können, insbesondere in der Notaufnahme. Wir waren zufrieden mit den Ergebnissen. Ich erinnerte mich an unsere beruflichen Gespräche, während ich mich fragte, wie es soweit kommen konnte, dass ich hierher fliehen muss.
Die Berichte über die komplette Zerstörung von Wohnvierteln häuften sich: Unsere Familien, Menschen in der Nachbarschaft, Kolleg*innen und Freund*innen, alle waren betroffen. Wir trösteten uns gegenseitig, indem wir uns sagten, dass materielle Besitztümer ersetzt werden könnten, aber dass das Wichtigste sei, zusammen zu sein. Doch die Verlustangst zehrte an mir: Ich schaute meinen Lieben in die Augen und verabschiedete mich, ohne zu wissen, ob ich sie wiedersehen würde.
In der Nacht des 13. Oktober, als wir auf dem Boden des Krankenhauses saßen, erfuhren wir, dass ein Befehl für eine Zwangsevakuierung in den Süden erteilt worden war. Ich konnte nicht glauben, was ich da las. Was war da los? Wir waren erschöpft und hatten mehrere Nächte lang keinen Schlaf. Wir überlegten stundenlang, wohin wir gehen und was wir tun sollten. Schweren Herzens liefen wir schließlich stundenlang in der Sonne. Diese Stunden gehörten zu den härtesten meines Lebens: Wir konnten kaum laufen, weil wir so sehr weinten. Ich umarmte meine Schwester, versuchte sie zu trösten, und beobachtete, wie unsere Kinder ihre Schulranzen schleppten, die statt mit Büchern mit ein paar Kleidern gefüllt waren. Wir konnten nur wenige Kleidungsstücke und die wichtigsten Dokumente mitnehmen. Solch eine gepackte Tasche steht immer in jedem Haushalt in Gaza bereit. Zu Tausenden machten wir uns auf den Weg nach Süden, wir waren unglaublich müde. Wir liefen ziellos, ohne zu wissen, wohin wir gingen. Die Kinder weinten und wir versuchten, sie zu beruhigen, ohne selbst zu verstehen, was geschah. Mein Mann hat unseren Kindern immer gesagt, dass es nur eine Frage von Tagen sei und dass wir nachher wiederkommen würden.
Während wir liefen erinnerte ich mich an ähnliche Szenen in einer palästinensischen Serie über die Nakba von 1948, die wir uns angesehen hatten und in der die Geschichte der Zwangsvertreibung unserer Großeltern erzählt wurde. Heute, neun Monate nach unserer eigenen Vertreibung, verfolgt mich immer noch diese Frage: Werden wir in unsere Stadt zurückkehren können, oder werden wir das Gleiche erleben wie unsere Großeltern, die immer noch auf ihre Rückkehr warten? Trotzdem trage ich die Schlüssel zu meinem Haus immer noch bei mir, genau wie unsere Großeltern.
Ich wählte seine Nummer Dutzende Male, aber Maisara antwortete nicht
Die Menschen wurden an verschiedene Orte gebracht. Meine Familie und ich fuhren ins Zentrum von Gaza, nach Deir al-Balah, wo wir bei einem alten Freund untergebracht waren. Die Bombardierungen und Zerstörungen gingen weiter, und zwar intensiv. Wir warteten darauf, dass wir an der Reihe waren, zu sterben, verletzt zu werden oder jemanden zu verlieren.
Wir lebten in Angst, wir erlebten Verlust und die Bedingungen waren extrem hart. Einige von uns wurden bei Dritten untergebracht, andere blieben in Schulen oder Zelten,
Um überhaupt unsere Grundbedürfnisse abdecken zu können, mussten wir bei null anfangen: Wir versuchten, Essen, Wasser, Kleidung, Matratzen, Strom, Zugang zu Toiletten, Hygiene und Medizin zu bekommen.
Trotz der Unterbrechungen aller Kommunikationsnetze und des Internets, die uns von der Welt isolierten, versuchten wir immer noch, unsere Lieben zu kontaktieren, um sicherzustellen, dass sie noch am Leben sind. Diese einfachen Details gehen unter neben Tod und Zerstörung: Dies ist ein weiterer großer Krieg. Jeder Tag bringt neue Not und Verluste. Ich konnte nicht ertragen, was mit uns passiert ist, ich fühlte mich machtlos, als ich Zeugin der Massaker in den Vierteln und Krankenhäusern wurde.
Das Verlust wiegt so schwer, er kann dich überwältigen und dich verfolgen
Ich habe meine Freundin Lamia am 14. Oktober verloren, sie war eine großartige Psychologin. Dann haben wir am 5. November unseren Kollegen Maisara Al-Rayyes verloren. Dr. Maisara war Mitglied von Ärzte der Welt, er war warmherzig, gebildet und mitfühlend. Am Morgen dieser beiden schmerzhaften Tage, der Todestage von Lamia und Maisara, versuchte ich sie anzurufen. Ich wählte ihre Nummern Dutzende Male in der Hoffnung auf eine Antwort. Wir hatten wie jeden Tag eine morgendliche Sicherheitskontrolle mit dem Ärzte der Welt-Team, aber Maisara antwortete nicht. Später erfuhren wir, dass das Haus seiner Familie direkt angegriffen worden war und dass ihre Leichen unter den Trümmern eingeschlossen waren. Ich betete tagelang, Tag und Nacht. Ich klammerte mich an die Hoffnung, dass sie gerettet werden könnten. In der Psychologie wird dies als Verleugnungsphase bezeichnet, als erste Phase der Trauer. Ein vorübergehender natürlicher Abwehrmechanismus, bei dem man den Verlust ablehnt und sich weigert, ihn einzugestehen, weil er Schwierigkeiten und Unglauben verursacht. Auch heute noch habe ich Angst, dass ich keine Antwort bekomme, wenn ich jemanden anrufe.
Es ist unmöglich zu beschreiben, wie sehr ich mich nach meinem Land und allem, was dafür steht, sehne. Ich vermisse Gaza. Ich vermisse unsere Häuser, unsere Straßen, unsere schönen Moscheen und Minarette, unsere geschäftigen Märkte, unsere Zentren und unsere Buchhandlungen. Ich vermisse das Meer, den Sand am Strand, den leckeren Fisch, die Corniche, die Hotels und die Cafés. Ich vermisse unsere Gemeinschaft und das Lachen, das Lachen der Kinder und die Eid-Feiern. Ich vermisse die alten Märkte und den Jasmin, die Oliven- und Feigenbäume in unserem Garten, den Mittagslärm in unseren Straßen, die Begegnungen zwischen Nachbarn, unsere traditionellen Gerichte. Ich vermisse unsere Lieben, unsere Freunde, ihnen in die Augen zu schauen, ihr Lachen und ihre Nähe.
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