Von fast 2.200 Toten gehen die Behörden nach dem Erdbeben der Stärke 7,2 inzwischen aus. Dazu kommen Tausende Verletzte und immense Sachschäden, zerstörte Häuser, geborstene Straßen, gekappte Strom- und Wasserleitungen. Etwa 30.000 Familien sind nun obdachlos. Der Tropensturm, der drei Tage später auf das Land traf, überschwemmte ganze Regionen, das Wasser stand knöchelhoch. Unsere Kolleg*innen vor Ort sind zum Glück unverletzt und kümmern sich bereits um die Nothilfe für die betroffene Bevölkerung – besonders im Departement Nippes, wo Ärzte der Welt vier Krankenhäuser unterstützt. Die Krankenhäuser in den betroffenen Gebieten sind überfüllt und es mangelt an medizinischem Personal. Es wurden Freiwilligenbrigaden aus anderen umliegenden Krankenhäusern organisiert, um den dringendsten Bedarf zu decken.
In den ersten Tagen nach dem Beben haben die Ärzte der Welt-Teams die Situation vor Ort untersucht, um genau einschätzen zu können, welche Hilfe wo benötigt wird. Darüber hinaus bewerten sie die kollektive Gesundheitslage und unterstützen die Kliniken, in denen die betroffene Bevölkerung medizinisch versorgt wird. Besonders benötigt werden Trinkwasser, Lebensmittel, Hygiene- und Sanitärprodukte, wetterfeste Unterkünfte, Medikamente und medizinisches Material für Behandlungen und chirurgische Eingriffe und Blutkonserven.
Ärzte der Welt kümmert sich auch um die psychologische Betreuung der Menschen. Gerade jetzt ist es wichtiger denn je: „Das Trauma, das die haitianische Bevölkerung während des Erdbebens 2010 erlitten hat, hat tiefe psychologische Narben hinterlassen, die nun wieder aufbrechen", sagt Nicolas Demers-Labrousse, Generalkoordinator von Ärzte der Welt in Haiti.
Eingeschränkte Sicherheit ist eine große Herausforderung
Eine der Herausforderungen ist die Lieferung von Hilfsgütern in die betroffenen Gebiete, den die Ärzte der Welt-Teams zurzeit organisieren: Die zerstörten Regionen sind schwer zugänglich und die Sicherheitslage sehr schlecht, da bewaffnete Banden manche Routen kontrollieren und Lieferungen aufhalten, vor allem auf der Martissan-Achse, einer wichtigen Verbindung zwischen der Hauptstadt und dem Grand Sud. Wir hoffen, dass ein humanitärer Korridor mit Hilfe des Zivilschutzes etabliert werden kann, um die Auslieferung von Hilfsgütern durchgängig zu ermöglichen.
Die Krise in Haiti ist eine der vergessenen humanitären Krisen der Welt, auf die die internationale Gemeinschaft bisher viel zu wenig reagiert hat.
Unsere Erfahrung in Haiti
Ärzte der Welt engagiert sich seit 1998 in Haiti, mit besonderem Schwerpunkt auf die Versorgung von Frauen und Kindern. Nach dem starken Erdbeben 2010 lag ein weiterer Fokus auch auf der Bekämpfung der Cholera, der Stärkung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit sowie auf Gesundheitsangeboten für Mütter und Neugeborene. Darüber hinaus arbeiten die Teams von Ärzte der Welt in Zentren für Patient*innen mit Mangel- oder Unterernährung und in Ernährungsprogrammen in verschiedenen Departements des Landes, vor allem in den ländlichen und schwer zugänglichen Gebieten West, Artibonite, Nordost und Nippes.
Hintergrund
Insgesamt versinkt das Land seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse am 7. Juli 2021 immer weiter im politischen Chaos. Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppen, Schießereien, Hausbrände, Plünderungen von Geschäften, Verkehrsblockaden, Entführungen stellen eine tägliche Bedrohung für die Bevölkerung vor allem in den Vierteln des Großraums Port-au-Prince und den angrenzenden Regionen dar. Die allgemeine Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Die Präsidentschaftswahlen wurden auf November festgelegt, da in den Wochen vor den Wahlen mit einer weiteren Zunahme der Gewalt zu rechnen ist