Michelle, worum geht es in unserem Projekt reach.out?
Bei reach.out unterstützen wir Menschen, die nach Deutschland gekommen sind und traumatische Erfahrungen gemacht haben – egal ob in den Herkunftsländern, auf der Flucht oder in Deutschland. Viele haben genderbasierte Gewalt erlebt, indem sie Opfer von Menschenhandel, Zwangsprostitution oder anderen Formen der sexuellen Gewalt geworden sind.
Richtet sich das Projekt an Männer und Frauen gleichermaßen?
Da generell über 90 Prozent der Betroffenen von genderbasierter Gewalt weiblich sind, sind auch unsere Adressat*innen hauptsächlich Frauen. Unsere Workshops waren im vergangenen Jahr sogar ausschließlich auf Frauen ausgerichtet.
Wo haben letztes Jahr die Workshops stattgefunden?
2023 waren wir im Ankerzentrum in Fürstenfeldbruck tätig. Das ist eine Aufnahmeeinrichtung mit einer Kapazität von 1.000 Personen. Die meisten davon sind allein reisende Männer, daher brauchen die Frauen dort besonderen Schutz. Unsere Workshops und Beratungsangebote richteten sich an Frauen aus unterschiedlichen Herkunftsländern.
Wie leben die Frauen in einem Ankerzentrum?
Das ist überall unterschiedlich. Im Ankerzentrum Fürstenfeldbruck gibt es einen Bereich für allein reisende Männer, einen für Familien und einen für allein reisende Frauen.
Wie sieht es dort aus?
Im Frauenbereich habe ich selbst die Zimmer gesehen. Die Frauen sind dort mit bis zu elf weiteren Personen in einem Zimmer mit Stockbetten untergebracht. Sie können die Zimmer nicht abschließen, es ist sehr schmutzig, wir haben Schimmel gesehen. Die Frauen haben keinerlei Privatsphäre, nicht mal einen abschließbaren Schrank.
Im Frauenbereich haben Männer keinen Zutritt, aber es gibt immer einen männlichen Security-Mitarbeiter. Dieser darf eigentlich nur im Eingang sitzen, aber wir haben mehrfach gesehen, dass er sich im Gebäude bewegt hat. Die Mitarbeitenden des Sicherheitsdienstes gehen dann einfach in die Zimmer der Frauen, ohne sich richtig anzumelden. Sie klopfen kurz und machen sofort die Tür auf.
Wie ist die Situation im Familienbereich?
Die Frauen haben uns erzählt, dass sie große Angst um ihre Kinder haben. Die Zimmer sind auch hier nicht absperrbar. Die Frauen können die Kinder nie allein im Zimmer lassen, weil sie befürchten, dass sie hinausrennen und sich im Gebäude verlaufen könnten. Das Ankerzentrum Fürstenfeldbruck ist eine ehemalige Kaserne mit langen Fluren, sehr weitläufig und unübersichtlich. Im Familienbereich sind auch die Väter untergebracht, was für die anderen Frauen mit ihren Kindern nicht einfach ist.
Ihr bietet Workshop-Reihen im Bereich Gesundheit an. Wie sind diese organisiert?
Wir bieten für jede Sprachgruppe eine Workshop-Reihe beispielsweise auf Englisch oder Türkisch an. Diese bauen thematisch aufeinander auf, aber man kann sie auch einzeln besuchen. Das ist wichtig, weil die Menschen häufig von einem Tag auf den nächsten verlegt werden und deshalb eine hohe Fluktuation im Ankerzentrum herrscht. Im Jahr 2023 waren es insgesamt 26 Workshop-Termine.
Und was sind die Inhalte der Workshops?
Wir sprechen über Gesundheit im Allgemeinen, die Rolle der Gesundheit im Asylverfahren und wie man im Ankerzentrum einen Arzt, eine Ärzt*in aufsuchen zu kann. Geflüchtete Menschen haben keine Krankenversicherung und damit keine Krankenversicherungskarte. Sie müssen vor jedem Arztbesuch beim zuständigen Amt einen Krankenbehandlungsschein besorgen. Wir erklären, wie sie das machen können und welchen Anspruch auf medizinische Versorgung sie als Bewohnerinnen haben.
Ebenso sprechen wir über psychische Gesundheit: Welche Symptome sind normal oder menschlich nach traumatischen Erfahrungen? Was kann ich selbst tun bei Symptomen wie Schlafstörungen? Welche Rechte und Möglichkeiten habe ich, um Hilfe in Anspruch zu nehmen?
Wir beginnen jeden Workshop mit verschiedenen Entspannungsübungen und zeigen den Frauen Entspannungstechniken, die sie selbst anwenden können, etwa wenn sie unter Schlafstörungen leiden. Bei den meisten unserer Teilnehmerinnen ist das der Fall.
Ein zentrales Thema ist sexuelle Gesundheit, sexuelle Aufklärung und sexuelle Selbstbestimmung. Wir sprechen über Geschlechtskrankheiten, Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbrüche. Letzteres ist gerade für Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, ein wichtiges Thema.
Wie gehen die Frauen mit dem Thema genderbasierte Gewalt um?
In den Workshops erklären wir, was genderbasierte Gewalt überhaupt ist. Indem wir erklären, wie viele Frauen weltweit und auch hier in Deutschland davon betroffen sind, wollen wir Tabus überwinden, denn das Thema ist immer noch sehr schambesetzt.
Welche Rechte und Handlungsmöglichkeiten habe ich als Betroffene? Welche Beratungsstellen gibt es in München und Umgebung? Wir weisen hier auf die besonderen Rechte von Betroffenen im Asylverfahren hin, gerade, wenn Frauen deswegen geflüchtet sind. Und wir versuchen, die Frauen auf die Anhörung im BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) vorzubereiten. Diese Anhörungen entscheiden darüber, ob ein Antrag auf Asyl erfolgreich ist oder nicht. Mit dem Einverständnis der Frauen informieren wir relevante Behörden über ihren besonderen Schutzbedarf und über Ansprüche, die Betroffene von sexualisierter Gewalt auch nach EU-Recht haben. So konnten wir für einige Frauen die Verlegung in Unterkünfte mit guter Anbindung an medizinische, therapeutische und psychosoziale Versorgungsstrukturen erwirken.
Vorhin hast Du auch Beratungen erwähnt?
Vor und nach jedem Workshop bieten wir Einzelberatungen an. In diesen Gesprächen helfen wir den Frauen individuell, indem wir beispielsweise Stellungnahmen verfassen und diese an die Regierung schicken. Bei psychischen Problemen unterstützen wie die Frauen dabei, psychotherapeutische Hilfe zu bekommen.
Wie gut sind die Menschen in den Ankerzentren über die Möglichkeiten einer medizinischen oder psychotherapeutischen Versorgung informiert?
Wenn die Menschen im Ankerzentrum ankommen, erhalten sie die Hausordnung beispielsweise mit den Essenzeiten. Aber sie bekommen häufig keine weiterführenden Informationen.
Es gibt staatliche Broschüren zum Asylverfahren, aber die liegen leider im Ankerzentrum nicht aus, obwohl die Informationen ja für alle interessant wären. Und zum Gesundheitssystem gibt es keinerlei Informationen, so dass die Menschen nicht wissen, was sie in Anspruch nehmen können und welche Rechte und Möglichkeiten sie haben. Sie müssen sich durchfragen und dadurch entstehen Missverständnisse und Gerüchte. Mit dem reach.out-Projekt schließen wir eine Lücke, aber nur in diesem kleinen Umfeld. Daher haben wir neben den Workshopreihen speziell zum Gesundheitsbereich auch Informationsbroschüren in verschiedenen Sprachen erstellt.
Im Rahmen des reach.out-Projekts bildet ihr auch Multiplikator*innen aus. Wie kam es dazu?
Das Multiplikator*innenprojekt ist in der Corona-Pandemie entstanden, weil wir während des ersten Lockdowns nicht mehr in die Unterkünfte hineindurften. Damals entstand die Idee, Menschen vor Ort in den Ankerzentren auszubilden, damit diese die Informationen an ihre Mitbewohnerinnen weitergeben. Das hat sehr gut funktioniert und so haben wir das Konzept weiterentwickelt.
Inzwischen betreuen wir schon die zweite Multiplikator*innen-Gruppe. Sechs geflüchtete Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern werden zwei Mal im Monat von uns geschult und können ihr Wissen weitergeben. Sie können Betroffene niedrigschwellig unterstützen, deren Bedarfe ermitteln und dann zusammen mit uns überlegen, an welche Hilfsangebote man sie weitervermitteln kann.
Was war für Dich ein besonderer Moment im vergangenen Jahr?
Was mich wirklich beeindruckt hat, ist, wie schnell sich die Frauen uns gegenüber geöffnet haben und dass es gut geklappt hat, ein vertrauensvolles Verhältnis auch unter den Workshopteilnehmerinnen herzustellen. Während der Workshops haben die Frauen auch und gerade beim Thema Gewalt gegen Frauen offen gesprochen. Es war für viele ein Aha-Erlebnis, dass fast alle in der Gruppe betroffen sind und die Thematik kennen. So konnten Scham- und Schuldgefühle abgebaut werden.
Auch beim Thema psychische Gesundheit haben Frauen gesehen, dass sie mit ihren Belastungen und Symptomen nicht allein sind. Die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, ist dadurch gestiegen. Es war wirklich bewegend, dass sich die Frauen uns und den anderen gegenüber so öffnen konnten.
Wie Sie helfen können
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