Im März 2020 wurde das öffentliche Leben in vielen Ländern heruntergefahren, bislang vertraute Strukturen brachen zusammen. Was waren in den ersten Wochen des Lockdowns die größten Herausforderungen für die humanitären Projekte von Ärzte der Welt im Ausland?
Julia Brunner: Wir mussten ganz schnell unsere Aktivitäten anpassen. Zum Beispiel in der Ukraine. Dort sind wir mit mobilen Einheiten unterwegs, um die Menschen medizinisch zu versorgen. Auf einmal galt es, einen covidkonformen Ansatz für unsere Arbeit zu entwickeln. Wir haben Schutzkleidung und Masken besorgt und Verfahren zur Infektionsprävention und -kontrolle entwickelt. In den ersten drei bis vier Wochen waren wir nur damit beschäftigt.
Bettina Rademacher: Ein anderes Beispiel sind die Palästinensischen Gebiete. Zahlreiche Menschen sind durch die Folgen der Besatzung seit Jahren traumatisiert. Wir beraten sie, bieten Gruppensitzungen an, schulen medizinisches Personal. Von heute auf morgen haben wir umgestellt vom persönlichen Kontakt auf Beratungen per Computer und Telefon. Erschwerend kam hinzu, dass humanitäre Helfer*innen wegen der Reisebeschränkungen nicht mehr ein- oder ausreisen konnten.
Wie ging es nach der ersten Notfall-Phase weiter?
J. B.: Die Lage hat sich zügig stabilisiert. Im Sommer wurde klar, dass wir die mit Covid-19 verbundenen Maßnahmen dauerhaft integrieren und unsere Projekte dementsprechend ausrichten müssen. Je nach Kontext verlief dieser Prozess unterschiedlich.
In einem Land wie dem Jemen ist die Situation besonders problematisch, dort herrscht seit 2015 Krieg.
J. B.: Ja, 21 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Immer wieder kommt es zu Krankheitsausbrüchen, wie zum Beispiel der Cholera. Covid-19 ist nur eine Krankheit unter vielen. Vor allem für die ländliche Bevölkerung ist es kaum möglich, sich auf Corona testen zu lassen. Geschweige denn herauszufinden, ob jemand an Cholera, Diphtherie oder Covid-19 gestorben ist. Oder an Hunger.
Ärzte der Welt ist in 28 afrikanischen Ländern tätig. Welche Auswirkungen hatte die Pandemie dort?
B. R.: Covid-19 ist neben Malaria, Cholera oder Gelbfieber eine von zahlreichen Krankheiten. In manchen Regionen beschäftigt die Menschen vor allem die Frage, wovon sie sich ernähren sollen. Natürlich gibt es Schutzkonzepte gegen das Virus, viele Länder hatten schnelle und harte Lockdowns. Aber der Fokus auf die Pandemie ist längst nicht so ausgeprägt wie in Europa. Ihre wirtschaftlichen Folgen werden allerdings hart sein. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen befürchtet doppelt so viele hungernde Menschen wie vor der Krise. Armut und Arbeitslosigkeit haben bereits zugenommen.
Gab es auch positive Veränderungen?
J. B.: Vor Corona haben wir die Projekte oft besucht – was gut und richtig war. Gezwungenermaßen mussten wir 2020 Beratungen und Trainings online durchführen. Dadurch konnten wir sogar noch mehr Menschen erreichen. Das war eine positive Erfahrung.
B.R.: Im Krisenjahr hat sich gezeigt, wie flexibel wir sind. Und wie flexibel unsere Geldgeber sind. Ohne das Entgegenkommen und das Vertrauen von Institutionen wie dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wäre die Anpassung in dieser Form nicht möglich gewesen.