Viele Saisonarbeitskräfte suchen bei open.med in Hamburg - der gemeinsamen Anlaufstelle von Ärzte der Welt und hoffungsorte - medizinische Hilfe. Wie viele sind es ungefähr?
Wir haben keine konkreten Zahlen, aber wir haben beobachtet, dass viele unserer Patient*innen seit April in der Landwirtschaft, also im Obst- und Gemüseanbau und der Ernte, tätig waren. Sie arbeiten zum Beispiel auf Erdbeerhöfen, pflücken Kirschen oder stechen Spargel. Die meisten kommen aus der Türkei, aus Bulgarien und Rumänien.
Das ist harte körperliche Arbeit. Seht ihr daraus resultierende Beschwerden?
Ja, viele haben zum Beispiel Schmerzen in den Gelenken, an der Wirbelsäule und am Rücken. Wenn Rückenschmerzen ins Bein ausstrahlen, kann das ein Symptom für einen Bandscheibenvorfall sein. Auch Hexenschüsse haben unsere ehrenamtlichen Ärzt*innen diagnostiziert. Wir vermitteln die Patient*innen zum Teil an Fachärzt*innen weiter, die kostenfrei die weitere Diagnostik und Therapie übernehmen. Oft raten die Ärzt*innen den Betroffenen, einseitige körperliche Belastung zu meiden. Das können viele Patient*innen jedoch nicht umsetzen, weil die Arbeit in der Landwirtschaft eine überlebenswichtige Einkommensquelle für sie ist. Auf Dauer können dadurch Verschleißkrankheiten wie Arthrose auftreten.
Die meisten sind weder in Deutschland noch in ihrem Herkunftsland krankenversichert. Ab dem kommenden Jahr sollen Arbeitgeber*innen jedoch verpflichtet werden, einen Versicherungsnachweis zu erbringen. Einige schließen bereits heute privaten Gruppenversicherungen für Saisonarbeitskräfte ab. Wird sich die Situation der Arbeiter*innen dadurch verbessern?
Die Frage ist, welche Leistungen diese Versicherungen umfassen, ob sie zum Beispiel Schmerztherapien, wie physiotherapeutische Behandlung, und angemessene Diagnostik beinhalten. Und es gibt ja auch noch andere Barrieren, zum Beispiel sprachliche. Viele Menschen kommen auch zu uns, obwohl sie krankenversichert sind, weil wir eine Sprachmittlerin haben. Da fühlen sie sich besser aufgehoben. Diese Patient*innen können wir dann auch an Ärzt*innen weitervermitteln, die Türkisch sprechen.
Die Coronapandemie hat ein Schlaglicht auf die teils ausbeuterischen Bedingungen geworfen, unter denen viele Erntehelfer*innen arbeiten müssen. Oft bleibt ihnen unter dem Strich nicht einmal der Mindestlohn und sie müssen in engen, heruntergekommenen Unterkünften leben. In der sogenannten Arbeitsquarantäne sind sie völlig isoliert und abhängig davon, dass Vorgesetzte sie verpflegen. Gleichzeitig wurde klar, wie systemrelevant diese Gruppe ist. Liegt darin eine Chance?
Ich habe die Hoffnung, dass sich am Problembewusstsein etwas geändert hat, und würde mir sehr wünschen, dass daraus konkrete Maßnahmen folgen. Die Menschen müssen vertraglich abgesichert, und besser untergebracht werden. Und sie brauchen Zugang zum regulären Gesundheitssystem.
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