„Der Mensch sitzt einfach da und starrt ins Leere, er ist gar nicht mehr erreichbar“, so beschreibt die Psychiaterin und Psychotherapeutin Stephanie Hinum Patient*innen, die dissoziiert sind. Sie schotteten sich völlig von ihrer Umgebung ab. Ursache hierfür könne eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sein, erklärt Hinum während der von Ärzte der Welt organisierten Online-Fortbildung im Dezember. „Es gibt viele Traumafolgen, wie etwa, dass ein Mensch eine Depression oder eine Suchterkrankung entwickelt. PTBS muss nicht die einzige Folge sein. Aber es ist wichtig, diese als solche zu erkennen“, führte die Expertin während ihres Vortrags aus. Nur dann könne man den Menschen wirklich helfen und ihnen gerecht werden.
Patient*innen mit PTBS haben schreckliche Gewalterfahrungen gemacht und werden von der Erinnerung daran immer wieder eingeholt. Gerade geflüchtete Frauen haben oft mehrere Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt (gender-based violence, GBV) erlebt, etwa in ihrem Herkunftsland, auf der Flucht oder in Deutschland. Das Spektrum ist groß und reicht von häuslicher Gewalt über weibliche Genitalverstümmelung, Vergewaltigung und Zwangsprostitution bis hin zu Menschenhandel.
„Mit der Erinnerung an das traumatisierende Erlebnis kommen auch die Emotionen zurück“, so Hinum. „Das ist nicht steuerbar.“ Der Leidensdruck für die Betroffenen ist groß. Und weil selbst kleinste Dinge einen Flashback auslösen können, entwickeln viele ein starkes Vermeidungsverhalten bis hin dazu, dass sie sämtlichen Sozialkontakten ausweichen. Gedanken, Stimmungen und auch das Gedächtnis der Patient*innen verändern sich negativ. „Die Betroffenen sind häufig sehr vergesslich und misstrauisch, sehr schreckhaft und können sich schlecht konzentrieren.“
Wenn sie bei einer Anhörung, etwa zu ihrem Asylverfahren, von dem erfahrenen Leid berichten sollen, so erwähnen sie die erlebten Gewalterfahrungen oft gar nicht – oder sie berichten sehr starr und ohne Emotionen davon. „Nur durch diese innere Distanz können sie ihre Gefühle in Schach halten. Aber diese empfindungslose Erzählweise wird ihnen dann häufig negativ ausgelegt. Dann heißt es, das sei auswendig gelernt, der Mensch lüge oder die Geschichte sei konstruiert.“ Das Personal der entsprechenden Entscheidungsinstanzen ist für eine differenzierte Wahrnehmung des Gegenübers meist nicht ausgebildet. Menschen, die Grauenvolles erlebt haben, erfahren nun, dass man ihnen nicht glaubt, selbst wenn sie es geschafft haben, sich zu öffnen und ihr Schicksal mitzuteilen.
Diesem Punkt schließt sich Anna Frölich an. Sie ist Rechtsanwältin und hat viel Erfahrung mit der juristischen Vertretung von Geflüchteten, die von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind. Neben der Tatsache, dass Betroffene häufig nicht ausreichend über ihre Rechte aufgeklärt würden, bekräftigte sie die mangelnde psychologische Qualifikation vieler Mitarbeitender, Traumatisierung zu erkennen und entsprechend zu bewerten. „Die Mitarbeitenden für Asylanhörungsverfahren bekommen eine kurze Schulung und sind dann Sonderbeauftragte“, so Frölich. „Eigentlich sollte ein*e Psycholog*in die Anhörung eines traumatisierten Menschen durchführen.“ Dies sei aber bei all den Anhörungen, bei denen sie anwesend war, noch nie der Fall gewesen.
Zudem setzt das Sprechen über die Gewalterfahrungen eine vertrauensvolle Beziehung voraus und oft mangelt es neben besonders geschultem Personal auch an der Zeit für Gespräche und Beratung. Wenn Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt diesen Fluchtgrund aus Scham erst zu einem späten Zeitpunkt im Asylverfahren hervorbringen, wird dies häufig vom Gericht als ein sogenannter „übersteigerter Vortrag“ gewertet und damit als unglaubwürdig eingestuft. Dies zeige, so Anna Frölich, dass eine unabhängige Asylverfahrensberatung und eine gute Anhörungsvorbereitung, etwa durch eine*n Rechtsanwält*in, dringend gegeben sein muss. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) selbst könne keine unabhängige Beratung leisten, da es ja die Instanz sei, die über den Asylantrag entscheidet.
Die Veranstaltung ist Teil des Projekts REACH OUT, das von der Europäischen Union unterstützt wird.