In einer von Ärzte der Welt unterstützten Beschwerde an die EU-Kommission macht die Gesellschaft für Freiheitsrechte auf den Missstand aufmerksam, dass die durch Paragraf 87 des Aufenthaltsgesetzes vorgeschriebene Datenweitergabe an die Ausländerbehörde Menschen ohne Papiere davon abhält, ihr verfassungs- und europarechtlich verbürgtes Recht auf medizinische Versorgung wahrzunehmen. Die Folgen: lebensbedrohliche Erkrankungen bleiben unbehandelt, Schwangere können nicht zur Vorsorgeuntersuchung und Covid-19-Infektionen werden nicht entdeckt.
Auf dem Papier haben auch Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Deutschland einen Anspruch auf eine medizinische Grundversorgung (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. §§ 4, 6 Asylbewerberleistungsgesetz). Sobald sie sich an die Sozialbehörde wenden, um den dafür erforderlichen Behandlungsschein zu erhalten, droht jedoch die Abschiebung. Denn die Sozialbehörde ist durch den Paragrafen 87 des Aufenthaltsgesetzes dazu verpflichtet, Menschen ohne Papiere an die Ausländerbehörde zu melden. Aus Angst vor einer Abschiebung meiden Betroffene es daher, eine Arztpraxis aufzusuchen.
„Menschen aus zweifelhaften migrationspolitischen Gründen vom Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung auszuschließen, ist nicht nur moralisch inakzeptabel, sondern auch unionsrechtswidrig,“ sagt Ärzte der Welt-Direktor François De Keersmaeker.
Neben der Verletzung des Rechts auf ärztliche Versorgung und Gesundheitsvorsorge nach Artikel 35 der EU-Grundrechtecharta, verstößt der Paragraf 87 auch gegen europäisches Datenschutzrecht. Denn dieses erlaubt eine zweckentfremdende Weitergabe von Daten nur, wenn sie notwendig und verhältnismäßig ist. Das ist hier jedoch nicht der Fall, denn die Übermittlungspflicht verfehlt ihren Zweck: Anstatt irreguläre Aufenthalte aufzudecken, schreckt sie Menschen lediglich davon ab, ihr Grundrecht auf medizinische Versorgung wahrzunehmen.
Ärzte der Welt ist Teil des über 80 Organisationen umfassenden Kampagnenbündnisses #GleichBeHandeln, das eine Abschaffung der Übermittlungspflicht für den Gesundheitsbereich fordert. Mehr als 22.000 Menschen haben eine entsprechende Petition bereits mit ihrer Unterschrift unterstützt. Die Petition und weitere Informationen zur Kampagne finden Sie auf: www.gleichbehandeln.de.
Hintergrund zur Beschwerde: Grundsätzlich ist jede Person oder Organisation berechtigt, sich mit einer Beschwerde an die EU-Kommission zu wenden, um Verstöße gegen das EU-Recht anzuzeigen. Die Kommission prüft die Beschwerde innerhalb eines Jahres und leitet eventuell ein Vertragsverletzungsverfahren ein.
Deutschland wurde schon mehrfach international für die aufenthaltsrechtliche Übermittlungspflicht im Gesundheitswesen kritisiert. Mehrere UN-Menschenrechtsausschüsse haben die Bundesregierung bereits aufgefordert, das Aufenthaltsgesetz zu ändern. Auch die Europäische Grundrechteagentur bewertet die medizinische Versorgung von Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Deutschland kritisch. Sie fordert, genauso wie das Europäische Parlament, eine Trennung der Einwanderungskontrolle von der Gesundheitsversorgung. Die Bundesregierung hat zuletzt im Mai 2021 in ihrem Rechenschaftsbericht zum UN-Frauenrechtsausschuss erneut ausdrücklich abgelehnt, den Paragraf 87 des Aufenthaltsgesetzes anzupassen.
Mehr Informationen und den Text der Beschwerde finden Sie hier: