Am 1.11.2023 jährt sich die politische Entscheidung, geflüchtete und asylsuchende Menschen in Deutschland aus dem regulären Gesundheits- und Sozialsystem auszuschließen. Seit inzwischen 30 Jahren leiden Geflüchtete unter den gesundheitlichen Folgen und den Ausgrenzungserfahrungen, mit denen sie in Massenunterkünften und bei Behördengängen durch das Sondersystem des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) konfrontiert sind.
Dieses Jubiläum ist kein Grund zu feiern. Das am 1. November 1993 verabschiedete Gesetz war die zynische Antwort auf die schwere rassistische Gewalt gegen Asylsuchende in Deutschland. Es hat die Ungleichbehandlung von Geflüchteten gesetzlich verankert und für Jahrzehnte zementiert", so Tahera Ameer, Vorständin der Amadeu Antonio Stiftung. „Bis heute kämpft die Zivilgesellschaft gegen die weitreichenden Folgen der damit auch gesetzlich legitimierten rassistischen Gewalt- und Ausgrenzungserfahrungen."
Wie sich das Gesetz auch heute noch auf die Lebensrealität geflüchteter Menschen in Deutschland auswirkt, erleben sowohl die Teams der humanitären Organisation Ärzte der Welt als auch die 47 Psychosozialen Zentren für Geflüchtete und Überlebende von Folter täglich. Asylsuchende haben in den ersten 18 Monaten lediglich Anspruch auf medizinische Versorgung unterhalb dessen, was der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen als medizinisch notwendig definiert. Oft entscheidet medizinisch nicht geschultes Personal in den Sozialämtern, ob darüber hinaus Leistungen in Anspruch genommen werden können - zum Beispiel bei psychischen Erkrankungen. Daneben haben Geflüchtete mit massiven Barrieren wie Diskriminierungen und Verständigungsproblemen zu kämpfen.
„Auch wenn Populisten wie Friedrich Merz in der Öffentlichkeit einen anderen Eindruck erwecken, Asylsuchende werden bis heute massiv benachteiligt, wenn es um den Zugang zu notwendigen Leistungen geht - vor allem auch im Bereich der medizinischen Versorgung. Deutschland ist sogar schon von den Vereinten Nationen dafür gerügt worden, dass es Asylsuchenden ihr Grundrecht auf Gesundheitsversorgung verwehrt", sagt die Leiterin Advocacy bei Ärzte der Welt Johanna Offe.
In den durch die BAfF vernetzten Psychosozialen Zentren kommen täglich massiv psychisch belastete Geflüchtete an, die keine Chance haben, im Gesundheitssystem versorgt zu werden. Viele von ihnen haben einen monate- oder jahrelangen erfolglosen Kampf hinter sich - im Versuch, ihre schweren auch körperlichen Folterfolgen behandeln zu lassen.
„Unsere Kolleg*innen in den Psychosozialen Zentren erleben seit 30 Jahren, dass niemand sein Leben aufs Spiel setzt, um in Deutschland zum Zahnarzt zu gehen. Im Gegenteil: Arztbesuche sind nach Folter, sexualisierter Gewalt und anderen demütigenden Gewalterfahrungen für die meisten unserer Klient*innen so scham- und angstbesetzt, dass sie lange dazu ermutigt werden müssen, sich ihnen überhaupt zu stellen. Doch die Symptome unserer Klient*innen verschwinden nicht, weil die Politik sie nicht sehen will. Sie spitzen sich zu - in vielen Fällen irgendwann so stark, dass stationäre Behandlungen notwendig werden", sagt Jenny Baron, Grundsatzreferentin bei der BAfF.
Anlässlich des Jahrestags fordern die Organisationen:
- Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!
- alle Gesundheitsleistungen wie im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen für Geflüchtete gesetzlich verankern
- Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte für Geflüchtete in allen Bundesländern
- Anspruch auf qualifizierte Sprachmittlung im Sozialgesetzbuch verankern
- EU-Aufnahmerichtlinie für besonders schutzbedürftige Geflüchtete flächendeckend und systematisch umsetzen
- Pflicht zur Übermittlung von Daten für den Gesundheitsbereich abzuschaffen, damit Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus sich ohne Angst vor einer Abschiebung ärztlich behandeln lassen können.